Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg Gedenkfeier zum 8. Mai: 300 Besuchende in St. Marien zu Lübeck

Junge Menschen zeigten Ausschnitte aus dem inklusive Theater- und Tanzprojekt HUMAN. Copyright: Oliver Beck

Lübeck. "Erinnern für die Zukunft – 80 Jahre Kriegsende": 300 Besuchende nahmen am Donnerstagabend (8. Mai 2025) an der Gedenkfeier in St. Marien zu Lübeck teil, ausgerichtet von der Hansestadt Lübeck, dem Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg, der Kirchengemeinde St. Marien und dem Haus der Kulturen. 

Marienpastor Robert Pfeifer begrüßte die Gäste aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Lübecks Bürgermeister Jan Lindenau sagte: “Ich bin froh, heute in eine volle Kirche zu schauen.” Er betonte, dass an diesem Tage nicht nur dem 80. Jahrestag des Kriegsendes gedacht werde. “Es ist zugleich ein Tag, an dem wir auf 80 Jahre Frieden blicken können. Dass dieser Frieden aber keine Selbstverständlichkeit ist, wird uns seit drei Jahren tagtäglich mit den Angriffen auf die Ukraine vor Augen geführt.” Lindenau wünschte sich in seinem Grußwort, dass der 8. Mai jedes Jahr aufs Neue genutzt werden sollte, gesellschaftlich ein deutliches Zeichen für Demokratie und gegen rassistische und antisemitische Hetze zu setzen. 

Beitrag der Pröpstin im Wortlaut

Der Beitrag von Lübecks Pröpstin Petra Kallies im Wortlaut: "Im Getöse der aktuellen Weltpolitik tritt derzeit vieles in den Hintergrund, das uns als Gesellschaft dringend beschäftigen müsste. Der so bedeutende 80. Jahrestag des Kriegsendes des 2. Weltkriegs gehört dazu. 

Es wird darüber debattiert, ob auch Vertreter:innen Russlands an Gedenkfeiern teilnehmen dürften. Was ist das eigentlich für eine Frage? Zehn Millionen russischer Soldaten verloren ihr Leben im Kampf gegen Hitler-Deutschland, oder starben in der Kriegsgefangenschaft. Die Gedenkfeiern ehren doch nicht den derzeitigen russischen Präsidenten, sondern ihr Andenken.

Zum ihrem 90. Geburtstag schreibe ich allen evangelischen Kirchenmitgliedern einen Gruß. Bis vor wenigen Jahren waren es vor allem Frauen, die dieses hohe Alter erreichten; Verhältnis Frauen zu Männer etwa 80 zu 20 Prozent. 

Erst seit einigen Jahren sind deutlich mehr Männer dabei. Der Grund liegt nicht allein darin, dass Frauen ohnehin eine höhere Lebenserwartung haben als Männer, sondern wesentlich darin, dass die Geburtsjahrgänge ab 1929 nicht mehr als Soldaten eingesetzt wurden und für die teuflische Ideologie der Nazis ihr Leben verloren. 

Weit zurück reicht der Schatten des Krieges. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa und darüber hinaus. Junge Menschen, die entweder dem Rassenwahn in den Tod folgten, oder, auf der Gegenseite, die Freiheit verteidigten.

In dieser Kirche sind viele Kreuze zu sehen. Wenn man aufmerksam umhergeht, entdeckt man immer mehr. Für mich persönlich ist nur eines davon wirklich kostbar. Vermutlich ist es fast das kleinste. Es wird leicht übersehen: das Nagelkreuz von Coventry. 

Das Nagelkreuz von Coventry

Es besteht aus drei Zimmermannsnägeln, die zu einem Kreuz zusammengelegt sind. Zirka 40 x 40 Zentimeter hoch und breit. Sie finden es an der Wand in der Süderturm-Kapelle, in der auch die zerbrochenen Glocken liegen. Diese Glockenstücke sind eines der eindrücklichsten Mahnmale in Lübeck gegen den Krieg: pure, zerstörerische Gewalt. Sie dominieren den Raum – und so übersieht man das kleine Nagelkreuz leicht.

Es ist ein beeindruckendes Zeichen der Versöhnung; und deshalb für uns so kostbar:

Im November 1940 zerstörten deutsche Bomber ohne Vorwarnung die mittelenglische Stadt Coventry. 550 Menschen kamen bei dem Angriff der Deutschen ums Leben. 4.300 Häuser wurden vernichtet, auch die mittelalterliche Kathedrale.

Ein Steinmetz fand dort am Morgen danach zwei verkohlte mittelalterliche Dachbalken in den Trümmern. Sie waren in Form eines Kreuzes aufeinander gefallen. Er band sie zusammen und stellte sie in der Ruine auf.

Einige Zeit später ließ Dompropst Richard Howard den Anfang des Kreuzeswortes Jesu auf die Wand hinter der Altarruine schreiben, mit einem Stück verkohltem Holz: „Vater, vergib“. Es heißt, er habe bewusst auf das dritte Wort „Vater, vergib ihnen“ verzichtet. Denn für den Dompropst bedeutete das „Vater, vergib“ die Pflicht, dem Feind die Hand zu reichen.

Bereits am Weihnachtstag 1940 hatte er in einer landesweiten Rundfunkübertragung aus der Ruine der Kathedrale dazu aufgerufen, keine Rache zu üben. Vielmehr sollte nach dem Ende des Kriegs gemeinsam mit dem Feind an einer freundlicheren Welt gearbeitet werden. 

Als Zeichen dieser Verpflichtung und Verheißung formte Pfarrer Arthur Wales mit drei Zimmermannsnägeln aus den mittelalterlichen Dachbalken der Kathedrale ein „Nagel-Kreuz“.

Von Coventry aus wurden und werden Kreuze weitergegeben, 1947, gleich nach dem Krieg zuerst nach Kiel, später nach Dresden. 1971 hat die Hansestadt Lübeck ein Nagelkreuz verliehen bekommen. In St. Marien fand des Nagelkreuz, das kleine, aber so wichtige und mutige Zeichen der Versöhnung seinen Platz.

Verneigung vor Opfern des Krieges

Domprobst Howard und Pfarrer Wales sind damals ausgestiegen aus der Logik von Gewalt und Gegengewalt. Schon mitten im Krieg setzten sie ein kleines Pflänzchen der Hoffnung für die Zeit nach dem Kriegsende. 

Heute verneigen wir uns vor den Opfern von Krieg, von Faschismus und von Rechtsextremismus. Wir ehren ihr aller Andenken, indem wir wachsam bleiben und jeder Form von Menschenverachtung entschieden entgegentreten. Immer wieder und konsequent. Denn leider ist es nicht vorüber: Hass, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Queerphobien sind Teil unserer Gesellschaft. Lassen wir es nicht zu, dass sie wieder Macht bekommen."

Bewegende Performance aus Tanzprojekt HUMAN

Das inklusive Musik- und Tanzprojekt “Human”, eine Kooperation zwischen der Musik- und Kunstschule Lübeck, Mixed Pickles, dem Theater Lübeck und dem Jugendsinfonieorchester Lübeck auf Grundlage der HUMAN Suite von Helge Burggrabe, stellte ohne Worte das dar, worum nach Kriegsende wieder mühsam gerungen werden musste: Grundbedürfnisse, Freiheit, Gleichberechtigung und Schutz. Die Choreografie und Performance von Katja Grzam und Charlotte Baumgart füllte die Leerstellen, welche Sprache nicht erreichen konnte.

Joachim Nolte, Beauftragter “Kirche und Rechtsextremismus” des Kirchenkreises, dankte dem Ensemble, dessen Inszenierung anlässlich des 75-jährigen Jubiläums der Verabschiedung der UN-Menschenrechte entstand. Er fragte: “Warum ist es so schwierig, eine Welt zu schaffen, in der alle Menschen gleich viel wert sind?”

Persönliche Worte von Joachim Nolte 

In seinem Beitrag erinnerte Joachim Nolte an einen Gedanken der georgisch-deutschen Schriftstellerin Nino Haratischwili: Wie hätte die Geschichte des 20. Jahrhunderts ausgesehen, wenn sie nicht von den Mächtigen, sondern von den zum Schweigen Gebrachten geschrieben worden wäre? Nolte fragte, was sein Großvater Karl Nolte wohl geschrieben hätte – ein politischer Häftling, der das Gefängnis Lauerhof und das Konzentrationslager Neuengamme überlebte, aber im März 1946 an den Folgen der „Vernichtung durch Arbeit“ starb. Seine Stimme blieb stumm – seine Seele, so Nolte, sei in Neuengamme geblieben.

Auch sein Vater, Hans Nolte, der 2015 verstarb, musste als 16-Jähriger Ende 1944 als „Kanonenfutter“ in den Krieg ziehen, ohne zu wissen, dass sein eigener Vater zu dieser Zeit im KZ Neuengamme eingesperrt war – verhaftet während der sogenannten „Aktion Gewitter“. Hans Nolte schrieb später seine Erinnerungen nieder, doch auch über seinem Leben lag der Schatten jener Zeit.

Joachim Nolte stellte in seiner Rede eine schmerzliche Frage: Von welchem Deutschland hätte er seinem Großvater und seinem Vater heute erzählen können? Von einem Land, das aus dem Schweigen gelernt hat – oder von einem, das schon wieder beginnt, zuzuhören, wenn die Falschen laut werden?

Drei Ausstellungen in St. Marien 

Unter dem Titel „Vergangenheit und Gegenwart – Rechte Gewalt seit 1945“ beleuchten ab sofort drei Ausstellungen in St. Marien zu Lübeck unterschiedliche Perspektiven auf rechte Gewalt in Norddeutschland:

  • „Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute“, Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen
  • „Die Angst verfolgt uns bis heute – Rechte Angriffe in Schleswig-Holstein“, ZEBRA – Zentrum für Betroffene rechter Angriffe e.V.
  • „Migrantischer Widerstand im Hamburg der 1990er Jahre“, kuratiert von Gürsel Yildirim, Soziologe und Aktivist

Das umfangreiche Begleitprogramm mit allen Terminen und Veranstaltungsorten ist online hier abrufbar.