Gedanken zur Pandemie von Pastor Friedrich Fallenbacher an einem besonderen Ort: Das Pestkreuz an der St.-Lorenz-Kirche in Lübeck. Copyright: Friedrich Fallenbacher
Es ist ein altes Symbol: Das Pestkreuz an der St.-Lorenz-Kirche nahe des Lübecker Hauptbahnhofs. Pastor Friedrich Fallenbacher macht sich in diesen Corona-Tagen Gedanken zur aktuellen Lage - und aus dem Pestkreuz wird ein Pandemie-Kreuz.
"Hier an der St.-Lorenz-Kirche hinter dem Bahnhof kommen viele Menschen vorbei. Auch wenn heute kein Gottesdienst gefeiert wird, steht die Tür offen. Ab und zu betritt jemand die Kirche, setzt sich in die Bank, entzündet ein Licht.
Ein altes Symbol an der St.-Lorenz-Kirche
Seitlich vom Eingang steht ein altes Symbol. Der Name, unter dem es wenigen bekannt ist, kommt nicht leicht über die Lippen: Pestkreuz von St. Lorenz. Errichtet aus Anlass einer historischen Pandemie nennt es den Tag der Gründung dieses Ortes: 1597 am Tag Laurentzius. Ein Ursprungsort des Stadtteils St. Lorenz und mehrerer Kirchengemeinden. Ein alter Pandemieort in der Geschichte unserer Stadt. Das Pandemie-Kreuz von St. Lorenz.
Symbol, das dem Ernst der Lage gewachsen ist
Brauchen wir zurzeit nicht hellere Symbole? Mehr Leichtigkeit in all dem Schweren? Unbedingt! Doch wir brauchen auch Symbole, die bestehen, die dem Ernst der Lage gewachsen sind.
Größer als ein Mensch steht es da in dieser Pandemie, die Menschenmaße sprengt. Wer ist denn noch auf Augenhöhe mit diesem harten, widerständigen Phänomen? Grau und rau fühlt sich Vieles an je länger je mehr. Selbst die Poren dieser Haut aus Stein sind offen. Bei trübem Wetter wird sie dunkler, ein Sonnenstrahl – und alles wirkt freundlicher.
Eingemeißelt: Den Armen thom Beste
Durch sein Dasein über die Jahrhunderte bezeugt dieses Kreuz ein altes Standing. Unverrückbar steht es da. Wofür tritt es ein? Für wen? „Den Armen thom Beste“ steht auf ihm eingemeiselt. Jetzt hat er mich, dieser alte Wächter mit seinen Worten in Gotlandkalk: „Den Armen zum Besten“.
Und wieder einmal denke ich: Die Lasten der Pandemie sind ungleich verteilt, die einen trifft es hart, andere weniger. Von seiner Widmung her steht dieses Symbol an der Seite jener, die die größten Nachteile der Pandemie erleiden, ihre schwersten Lasten tragen.
Diese Zeit macht ärmer
Denn diese Zeit macht viele in vielerlei Hinsicht ärmer: Kinder, Jugendliche werden eines Reichtums an Unbefangenheit beraubt. Menschen in medizinischen Berufen, in pädagogischen Berufen, in Bereitschaftsdiensten, in für das Gemeinwohl verantwortlichen Berufen und Ämtern überziehen die Konten ihrer Kräfte. Freischaffende, Kulturtragende, Ungezählte, die mit Geschäft, Lokal, Betrieb, mit ihrer ganzen Existenz ein Limit überschreiten. Einsame, Pflegebedürftige, Kranke, Sterbende, Angehörige, die Nähe und letzte Begegnung schmerzlich entbehren. Familien, denen zwischen Homeoffice und Kinderbetreuung die Luft ausgeht …
Steinerner Wächter steht dagegen
Gegen’s Drangewöhnen, gegen’s Übersehen- und Vergessenwerden steht dieser Wächter hier, den in jeder Hinsicht Entbehrenden zum Besten. Zuallererst gewidmet den Armen, die konkret in Armut leben, und den Menschen, die die Pandemie das Leben kostet, denen sie das Teuerste raubt. „Gott zu Ehren“ steht da auch im Stein, und ein Licht brennt davor, möglichst Tag und Nacht.
Ein Licht, das aufscheint
Rückblick auf den Epiphanisa-Sonntag: Es geht um das Aufscheinen eines Lichtes aus dem Hintergrund der Dinge. Um ein Licht, das sich an Stellen zeigt, an denen es niemand erwartet. Inmitten eines Dorngebüsches am Wegrand brennt, so erzählt die Überlieferung dieses Sonntags. In dem Brennen eine Stimme, der sich Mose stellt: „Hier bin ich“. Er empfängt Weisung und Energie, die hinausführt aus einer Not.
Gibt es eine Chance?
Mich lässt hier am Licht vor dem Pandemiekreuz die Frage nicht los: Brennt irgendwo in den Dornen unserer Zeit ein Erkennen, dem ich mich stellen soll? Jede, jeder, wir alle überall, pandemisch, im Sinne dieses Wortes. Gibt es eine Chance pandemischen Lernens, das alle Einzelnen und das ganze Menschenvolk betrifft? Das Wege in eine Zukunft mit neuen Prioritäten des Lebens weist? Ich hoffe das, wir alle hoffen das. Dieser Efeu, der da von unten am Pandemie-Kreuz emporwächst, ist unausrottbar lebendig und grün.
Ein neue altes Symbol: Das Pandemie-Kreuz
‚Pandemie-Kreuz St. Lorenz‘ weist ein neues Schild auf diesen Ort hin mit den Worten: Allen zur Hoffnung. Allen zum Gedenken. Allen zum Segen."
Pastor Friedrich Fallenbacher