Es ist viel von Freiheit die Rede in diesen Tagen, und auch viel von den Problemen des Alters. In der JVA hat Pastor Friedrich Kleine eine Pilotgruppe "Arbeit mit männlichen Lebensälteren" ins Leben gerufen.
Sobald man das Gebäude betritt, scheint alles still zu stehen. Die Luft bildet eine muffige Wand, die vergitterten Fenster beschränken die Sicht; der Tagesablauf bei Gefangenen ohne Job wird getaktet von aufstehen, essen, warten, essen, eine Stunde Hofgang, warten, essen, warten, schlafen. Dazwischen fernsehen, lesen, Musik hören. Wenig Kontakt. Wie überall in Deutschland sind auch viele der 400 Gefangenen der Justizvollzugsanstalt Lübeck bis zu 23 Stunden täglich in ihrem Haftraum eingesperrt. Das Leben schnurrt zusammen auf sieben Quadratmeter, der immer gleiche Ablauf lässt die Menschen jegliches Zeitgefühl verlieren.
28 der 400 männlichen Gefangenen der JVA sind über 60 Jahre alt, für sie hat die Zeit eine besonders schonungslose Komponente. „Den älteren Gefangenen ist viel stärker bewusst, dass ihr Leben begrenzt ist“, hat Gefängnisseelsorger Friedrich Kleine bei Gesprächen festgestellt. „Viele machen sich Sorgen, ob sie nach dem Verbüßen einer langjährigen Haftstrafe noch in der Lage sind, in ein normales Leben zurückzukehren.“ Dazu kommen die gesundheitlichen Probleme, die bei allen Menschen mit dem Alter zunehmen. Doch mit wem über diese Sorgen sprechen?
Dieses Angebot macht seit Anfang des Jahres Sozialpädagoge Heiko Emmerinck. Der 64jährige Diakon hat jahrelang in der JVA als Abteilungsleiter in der Sozialtherapie gearbeitet, nach seinem offiziellen Ruhestand bietet er nun einmal wöchentlich eine Gesprächsgruppe für Gefangene über 60 an. „Ich möchte diese Gruppe aus der Isolation holen und Ihnen eine Lebensperspektive für die Zeit nach der Strafhaft aufzeigen“, sagt er. „Es geht um die Bedürfnisse der älteren Gefangenen, ich bin der Begleiter in einer schwierigen Lebensphase.“ Es ist deutschlandweit eine der ersten Gruppen dieser Art und wird finanziert vom Land, Träger ist der Evangelisch-Lutherische Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg. „Der demografische Wandel ist auch im Gefängnis angekommen, damit müssen wir als Kirche umgehen“, so Kleine, der die Zusammenarbeit zwischen Gefängnis und Kirchenkreis vermittelt hat.
So sitzen an diesem Donnerstag sechs einheitlich grün gekleidete Männer aus allen Teilen der Anstalt zwei Stunden lang nicht allein in einer Einzelzelle, sondern versammelt um einen Tisch mit Pulverkaffee und Keksen und berichten reihum von ihrer Woche. Rückenschmerzen, Zahnprobleme, Post von den Enkelkindern, keine Post von der Familie, schlechte Nachrichten vom Anwalt. Der nächtliche Krach der jugendlichen Nachbarn nervt, das Sportangebot ist für Senioren ungeeignet, ein 76jähriger Häftling macht sich Sorgen um sein nachlassendes Gehör. „Wir wissen, dass wir auf der Zielgeraden des Lebens sind“, sagt einer von ihnen. „Wenn ich rauskomme, bin ich 72 Jahre alt. Hier werde ich behandelt wie ein unmündiges Kind. Werde ich das schaffen, wenn ich wieder draußen bin? Und bleibt mir dann überhaupt noch Zeit?“ Ein junger Mithäftling habe versucht, ihn aufzuheitern, indem er von seinem Großvater berichtet hat, der 93 geworden ist. „Und was ist, wenn ich nur 73 Jahre alt werde? Und wenn ich den Sprung in die selbständige Freiheit nicht mehr schaffe?“ Die Zeit steht hier eben nur scheinbar still.
Die 10-Minuten-Rauchpause zwischen den Blumen im Hof lässt ahnen, wie diese Normalität sein könnte. „Ich habe in meiner Haftzeit 16 Kilogramm zugenommen“, begründet ein Gefangener die Nachfrage, warum er den Antrag für einen Tag außerhalb der Gefängnismauern, der „Ausführung in Begleitung“, noch nicht gestellt hat. „Bevor ich rauskomme, nehme ich ab, und wenn ich drei Wochen hungern muss. Ich passe ja in meine alten Hemden gar nicht mehr rein.“ Das ist die größte Sorge der älteren Gefangenen: Sie kommen in ihr altes Leben zurück, und es passt Ihnen nicht mehr.
Foto: Sozialpädagoge Heiko Emmerinck (links) und Gefängnispastor Friedrich Kleine im Gespräch mit älteren Gefangenen der JVA Lübeck.