Politik soll sich an den Fakten orientieren – und sie lebt nach den Worten von Pröpstin Petra Kallies vom Dialog. Bei einer Informationsveranstaltung des Innenministeriums am 03.06.2015 in der MuK ging es um die Erstaufnahme der Flüchtlinge im Bornkamp.
Politik soll sich an den Fakten orientieren – und sie lebt nach den Worten von Pröpstin Petra Kallies vom Dialog. Vom fairen Zuhören und vom gemeinsamen Suchen nach den richtigen Schritten. Bei einer zweieinhalbstündigen Informationsveranstaltung des Innenministeriums zur Debatte um die Erstaufnahme im Bornkamp äußerten sich in der Musik- und Kongresshalle (MuK) am Mittwoch, 03.07.2015 neben der Pröpstin auch Innenminister Stefan Studt (SPD), Bürgermeister Bernd Saxe, Ulf Döhring und Dr. Thiemo Lüeße in Form einer Podiumsdiskussion. Außerdem hatten die Zuhörer während der Veranstaltung die Möglichkeit, schriftlich Fragen einzureichen.
Die 700 aufgestellten Stühle sind beinahe alle besetzt, als ein syrischer Flüchtling einleitend zur Veranstaltung Einblicke gibt in seine persönliche Situation. Der 20-Jährige schildert den Hintergrund seiner Flucht und erklärt, wie wichtig es für ihn gewesen sei, Hilfe anzunehmen, um sich in der Fremde einzuleben. Mit allem, was dazu gehört: Begleitung bei Behördengängen, das Erlernen der Sprache, der neuen Regeln und Gesetze – gerade in den ersten Monaten „fühlt man sich sehr unsicher und braucht Unterstützung“. Seine Worte werden mit Applaus bedacht.
Die Beiträge der im Anschluss auftretenden Diskussionsteilnehmer erhalten nicht im gleichen Maße Zustimmung; laut wird es im Publikum vor allem, wenn es um die Auswahlkriterien zum Standort Bornkamp geht. Als erster Redner gibt Innenminister Stefan Studt Informationen zu Fragen wie: Was ist eine Erstaufnahmeeinrichtung? Warum wurde der Bornkamp ausgewählt? Und: Warum kommt für das Land eine dezentrale Unterbringung der Flüchtlinge nicht in Frage? „Ich möchte nicht nur Kopf und Verstand ansprechen“, sagt der Kieler Innenminister, der gerade von Gesprächen mit dem EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz zurückgekehrt ist, „sondern an Ihr Herz appellieren.“ Nach Zahlen, Daten und Fakten zur geplanten Aufnahme von 600 Flüchtlingen im Bornkamp, teilte er dem Publikum mit, dass die gewünschte Unterbringung in über die Stadt verteilten kleineren Einrichtungen finanziell und organisatorisch nicht geleistet werden könne - unter anderem aus Logistik- und Sicherheitsgründen.
Angesichts teils schwerst traumatisierter Flüchtlinge, die extreme Gewalt erfahren hätten, sagte Bürgermeister Bernd Saxe: „Wir haben nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Verpflichtung zu helfen“ und gibt einen Ausblick darauf, dass bis Ende diesen Jahres etwa 1.700 Flüchtlinge in Lübeck erwartet werden. Eine Organisation der Erstaufnahme im 6-Wochen-Zyklus ist laut Innenministerium nur in einer Einrichtung dieser Größenordnung zu leisten: Von der ärztlichen Erstuntersuchung über den ersten Sprachunterricht bis hin zur Angliederung der schulpflichtigen Kinder an Schulen bzw. den Unterricht in den Schulferien. Noch in diesem Monat geht die Verkaufsvorlage für das Grundstück zum Beschluss an die Bürgerschaft.
Pröpstin Kallies sagte, dass man sich mit der Vielzahl von Sorgen, Befürchtungen und Ängsten der Anwohner auseinandersetzen müsse. Denn nur aus einer möglichst gut beschriebenen Ausgangslage lassen sich die nächsten Schritte und Erfordernisse sachgemäß beschreiben. Sie sagte aber auch: „Es ist nicht hinnehmbar, wenn negative Vorurteile über Flüchtlinge verbreitet werden. Ihnen von vornherein kriminelles Verhalten zu unterstellen, widerspricht den Werten, auf denen unsere Demokratie basiert und die uns kostbar sind: nämlich unbedingter Respekt vor anderen Menschen. Achtung der Menschenwürde eines jeden.“ Solche Unterstellungen dienten nicht der Klärung, sondern vergifteten das gesellschaftliche Klima, mahnte sie.
Zum Hintergrund der geplanten Erstaufnahme erläuterte das Kieler Innenministerium:
Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht vor Kriegen, Not und Elend. Die Landesregierung rechnet damit, dass allein in diesem Jahr bis zu 20.000 Menschen Schutz und Unterstützung in Schleswig-Holstein suchen. Dafür muss das Land neue Erstaufnahmeeinrichtungen schaffen, da die Kapazitäten derzeit bei weitem nicht ausreichen. In den Einrichtungen sollen die Antragsaufnahme und Anhörung im Rahmen des Asylverfahrens, Sprachunterricht und Integrationsorientierung ermöglicht werden. Nach den prognostizierten Flüchtlingszahlen werden 1.800 neue Erstaufnahmeplätze benötigt, die an den Universitätsstandorten Lübeck, Kiel und Flensburg mit jeweils 600 Plätzen realisiert werden sollen. Mit den bereits bestehenden 1.350 Plätzen in Neumünster und Boostedt verfügt das Land dann über ausreichend Kapazitäten für eine integrationsorientierte Erstaufnahme.
Das Land will diese Einrichtungen an den Universitätsstandorten in Campusnähe bauen, weil, so die Erwartung, dort eine weltoffene Atmosphäre herrscht und Menschen leben, die sich auf das Fremde einlassen. Außerdem sollen die Einrichtungen im Anschluss an ihre Nutzung als Erstaufnahmeeinrichtung Wohnraum für Studierende bieten. In Lübeck wurde eine Vielzahl von in Frage kommenden Standorten geprüft und dabei der Bornkamp als am besten geeigneter Standort ausgewählt.
Hier finden Sie die vollständige Stellungnahme von Pröpstin Petra Kallies
Sehr geehrter Minister Studt, sehr geehrter Bürgermeister Saxe, sehr geehrte Damen und Herren,
ich danke Ihnen für die Gelegenheit, im Rahmen der Diskussion um die geplante Erstaufnahme-Einrichtung im Bornkamp zu und mit Ihnen zu sprechen.
Ich bin froh, dass heute Gelegenheit ist, durch Sachinformationen mehr Klarheit zu gewinnen, denn nur aus einer möglichst gut beschriebenen Ausgangslage lassen sich die nächsten Schritte und Erfordernisse sachgemäß beschreiben.
Die Ausgangslage
Seit Bekanntwerden der Pläne für eine Erstaufnahme-Einrichtung für Asylsuchende in Lübeck sind eine Vielzahl von Sorgen, Befürchtungen und Ängsten geäußert worden. Manches davon ist bedenkenswert und muss einfließen in die konkreten Planungen. Politik soll sich an den Fakten orientieren – und sie lebt gleichzeitig vom Dialog. Vom fairen Zuhören und vom gemeinsamen Suchen nach den richtigen Schritten.
Manche Abwehr, die zu hören und zu lesen war, ist möglicherweise der Verunsicherung geschuldet, dass noch klare Vorstellungen davon fehlen, wie eine Erstaufnahme-Einrichtung und das Zusammenleben so gestaltet werden können, dass eine gute Nachbarschaft gelingt. Ich habe verstanden, dass andere Städte erste Erfahrungen damit gemacht haben, was klappt und was nicht. Aber es gibt keine bereits jahrelang erprobten Modelle, die man eins zu eins übernehmen könnte. Die weltpolitische Lage stellt uns in den Kommunen, in unserer Nachbarschaft vor Aufgaben, für die wir vor Ort gemeinsam Lösungen finden müssen.
Und manches, was in den letzten Wochen zu den Planungen des Landes zu einer Erstaufnahme-Einrichtung für Flüchtlinge im Bornkamp gesagt worden ist, wäre besser nicht gesagt worden! Es ist nicht hinnehmbar, wenn negative Vorurteile über Flüchtlinge verbreitet werden. Ihnen von vornherein kriminelles Verhalten zu unterstellen, widerspricht den Werten, auf denen unsere Demokratie basiert und die uns kostbar sind: nämlich unbedingter Respekt vor anderen Menschen. Achtung der Menschenwürde eines jeden. Solche Unterstellungen dienen nicht der Klärung, sondern vergiften das gesellschaftliche Klima. Umso wichtiger ist es, jetzt endlich wieder zu einem respektvollen und sachlichen Umgang mit dem Thema zurückzukehren, so wie wir es bislang in Lübeck (wie ich finde in guter Form) gepflegt haben.
Die historische Verortung
Wenn wir heute über eine Einrichtung für Flüchtlinge im Lübecker Hochschulstadtteil sprechen, dann verhandeln wir nicht nur ein gegenwärtiges Problem, sondern historisch betrachtet auch eine entscheidende Errungenschaft unserer bundesdeutschen Demokratie.
Das deutsche Asylrecht für politisch Verfolgte ist ein Grundrecht, das in Artikel 16 a unseres Grundgesetzes verankert ist. Als eine der wenigen Verfassungen der Welt gewährt das GG unter bestimmten Voraussetzungen jedem politisch Verfolgten einen gerichtlich durchsetzbaren Anspruch auf Asyl. Es zieht damit die historischen Lehren aus der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft.
Dass das Asylrecht nie nur eine rein nationale Angelegenheit ist, sondern immer eine europäische und weltweite Aufgabe sein muss – das verdeutlichen die Erfahrungen unserer Großelterngeneration zur Zeit des Nationalsozialismus: in den Jahren 1933 bis 1941 sind schätzungsweise 250.000 Juden aus dem Deutschen Reich geflohen und viele weitere haben es versucht. Diese Menschen wurden in den Nachbar- und Einwanderungsländern keineswegs mit offenen Armen empfangen.
1938 trafen sich in Evian am Genfer See Vertreter von insgesamt 32 Nationen, um die Möglichkeiten der Auswanderung von Juden aus Deutschland und Österreich zu verbessern. Im Ergebnis allerdings diente die Konferenz eher der Abschottung der potenziellen Aufnahmeländer. Viele verweigerten sich grundsätzlich der Aufnahme von Einwanderern. Andere ließen lediglich die Durchreise von jüdischen Flüchtlingen zu. Bei Überschreitung einer festgelegten Quote wurden Wartelisten eingerichtet (z.B. in den USA). Ein trauriges Beispiel ist die Schweiz, an deren Grenze in der gesamten Kriegszeit über 24.000 Menschen abgewiesen wurden. Die meisten von ihnen dürften Juden gewesen sein – über ihr Schicksal möchte ich nicht spekulieren.
Dass es trotz dieser vielfältigen staatlichen Hürden eine Viertelmillion jüdischer Deutscher geschafft haben, vor dem Terror des Nationalsozialismus zu fliehen, dafür können wir dankbar sein. Es ist zu vermuten, dass dieses nicht zuletzt dem Engagement einzelner Menschen in Europa und weltweit zu verdanken ist. Sie haben die Flüchtenden selbstlos unterstützt und ihnen eine neue Heimat gegeben.
Zum Ende des Krieges verloren dann viele Deutsche ihre Heimat und flohen nach Westen. Mehrere Hunderttausend kamen auf der Flucht um, und die Neuankömmlinge hatten es schwer, als sie hier ankamen.
In den letzten Jahren habe ich mit vielen alten Menschen gesprochen, den sogenannten Kriegskindern. Sie wissen noch heute lebhaft davon zu berichten, was es bedeutete, mit nur einem Bündel voller Habseligkeiten, mit entsetzlichen Albträumen, mit Heimweh und Angst um vermisste Angehörige anzukommen – und von den Einheimischen zum Teil mit Skepsis, zum Teil mit offener Abwehr behandelt zu werden, mit feindseligen Kommentaren bedacht und offen diskriminiert zu werden.
Dass die meisten Lübecker heute sehr hilfsbereit und aufgeschlossen sind, was die praktische Unterstützung von Flüchtlingen anbelangt, hat, vermute ich, auch mit dieser Geschichte zu tun.
Die Aufgaben
Heute stammen die meisten Flüchtlinge aus den Krisen- und Kriegsregionen in Syrien, Afghanistan oder Somalia. Ein Großteil bleibt in den selbst oftmals armen und politisch nicht immer stabilen Nachbarländern. Im Jahr 2014 waren es in Pakistan 1,6 Mio., im Libanon 1,1 Mio., im Iran 980.000 Flüchtlinge.
Dennoch schaffen es viele der Menschen auf oft lebensgefährlichen Wegen auch nach Europa. Von dem, was sie dafür auf sich nehmen, legen die fast täglichen Katastrophen auf dem Mittelmeer ein schreckliches Zeugnis ab. Sie brauchen unsere Unterstützung, um sich in unserem Land zurechtzufinden, unsere Sprache zu lernen und um hier heimisch zu werden - sei es auf Zeit, bis eine Rückkehr in ihre eigene Heimat wieder möglich ist, oder sei es für immer.
Allmählich erkennen wir, dass viele Flüchtlinge aufgrund der instabilen politischen Lage in ihrem Heimatland noch lange bei uns leben werden. Wir erahnen, dass sich dadurch unsere Gesellschaft verändern wird. (Ebenso, wie sich unsere Stadt nach 1945 grundlegend verändert hat. Aber: es unseren Eltern und Großeltern gelungen! Mir ist bewusst, dass es damals keine sprachlichen Verständigungsprobleme gab – aber die Rahmenbedingungen insgesamt waren deutlich schwieriger und die Anzahl der Zufluchtsuchenden bedeutend höher.)
Ich möchte die Besorgnis nicht kleinreden: das Zusammenleben von Menschen verschiedener ethnischer, kultureller, sprachlicher und religiöser Herkunft ist eine große Herausforderung. Es stellt uns vor gesellschaftliche Aufgaben, die die Politik zu regeln hat, und die alle zivilgesellschaftlichen Gruppen, auch unbedingt die Kirchen, mitzutragen und mitzugestalten haben. Am Ende ist die Unterstützung jeder und jedes Einzelnen wichtig und nötig.
Im Moment der direkten und persönlichen Konfrontation mögen sich damit mache Bürgerinnen und Bürger überfordert sehen. Viele berechtigte Fragen stellen sich: Wie verändert sich mein Umfeld, wenn Flüchtlinge in der Nachbarschaft leben? Welche Konsequenzen mag das für mein alltägliches Leben haben? Wie gehe ich emotional damit um?
Diese Fragen müssen gehört werden. Und wir sollten versuchen, gemeinsam Antworten darauf zu finden. Um das zu schaffen, braucht es angesichts stetig steigender Flüchtlingszahlen (und leerer Kassen) ein großes Engagement der Politik, manchmal auch pragmatische Lösungen. Konkret: da die Finanzmittel begrenzt sind: ist es wichtiger, dezentrale Unterkünfte zu bauen und die Menschen mit Bussen zu Beratung, medizinischer Versorgung oder Sprachkursen zu bringen – oder ist das Geld nicht besser in Sprachkursen möglichst von Anfang angelegt und einer Ausstattung, die dazu beträgt, zur Ruhe zu kommen (z.B. der Möglichkeit, selbst zu kochen)?
Es braucht außerdem Offenheit im Umgang miteinander. Politik steht hier in Verantwortung ihren Bürgerinnen und Bürgern gegenüber. Deshalb bin ich froh, dass Sie heute wie auch bereits am 18. Mai im Audimax ihrem Informationsauftrag nachkommen. Wünschenswert wäre es nach meiner Ansicht gewesen, wenn Sie das Gespräch mit dem Stadtteil wesentlich früher gesucht hätten.
Die angemahnte Offenheit gilt aber für uns alle, die wir hier versammelt sind.
Ich möchte dafür werben, dass wir den vorgetragenen Argumenten von allen Seiten unvoreingenommen begegnen. Dass wir uns selbst befragen: Aus welchem Grund eigentlich bin ich für oder gegen einen bestimmten Standort einer Erstaufnahmeeinrichtung? Oder ein Konzept der Betreuung, sei es zentral oder dezentral angelegt? Und wie kann ich angesichts der sachlichen Vorgaben zu einem gelingenden Miteinander beitragen?
In der Flüchtlingshilfe erleben wir in den letzten Jahren ein starkes Engagement vieler – auch ehrenamtlich tätiger – Menschen. Darauf können wir stolz sein. An die bereits vorhandenen und erprobten stadtteilübergreifenden Strukturen lässt sich sicherlich anknüpfen, wenn es nun um neue Herausforderungen in gemeinsamer Verantwortung gehen soll.
Haben Sie vielen Dank.