Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg Appell für eine neue Erinnerungskultur: Hinschauen, wahrnehmen, benennen!

Joachim Nolte ist Beauftragter „Kirche und Rechtsextremismus“ des Kirchenkreises Lübeck-Lauenburg. Copyright: Bastian Modrow

Lübeck/Bad Schwartau. Joachim Nolte aus Lübeck engagiert sich seit vielen Jahren gegen Rechtsextremismus, ist seit 2008 ehreamtlicher Beauftragter  „Kirche und Rechtsextremismus“ des Kirchenkreises Lübeck-Lauenburg. Für sein unermüdliches bundesweites Engagement ist der heute 60-Jährige 2020 mit der Bugenhagenmedaille, der höchsten Auszeichnung der Nordkirche für ehrenamtliches Engagement, geehrt worden. In seiner Heimatstadt Bad Schwartau setzt sich Nolte gemeinsam mit anderen erinnerungspolitisch engagierten Bürgerinnen dafür ein, ein Gedenken an die Widerstandskämpferinnen und -kämpfer, Verfolgten und Opfer der Zeit des Nationalsozialismus zu schaffen. Zum Volkstrauertag 2023 sprach Joachim Nolte vor Vertretern aus Politik und Wirtschaft, Gesellschaft und Militär. 

Joachim Nolte zum Volkstrauertag

Ich möchte mit einem Satz aus dem Buch „Das achte Leben“ der georgisch-deutschen Theaterautorin, -regisseurin und Romanautorin Nino Haratischwili beginnen.

„Wie sähe die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus, wenn sie nicht von denen geschrieben worden wäre, die sie bestimmt haben, sondern von denen, die stumm bleiben mussten?“

Was hätte mein Großvater, Karl Nolte, geschrieben? Er hatte als politischer Häftling das Gefängnis Lauerhof und die Haft im Konzentrationslager Neuengamme physisch überlebt. Er blieb stumm! Seine Seele ist in Neuengamme geblieben und er starb 1946 an den Folgen der „Vernichtung durch Arbeit“.

Ich hatte einen großartigen Großvater. Ich habe ihn nie erlebt. Er ist mir nahe und er war für mich prägend durch die Erzählungen meines Vaters und das, was mein Vater durch sein Leben von ihm an meine beiden Geschwister und mich weitergetragen hat.

Von welchem Deutschland könnte ich ihm heute erzählen?

Mein 2015 verstorbener Vater, Hans Nolte, hat seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Er war 16 Jahre alt, als er mit anderen Jungen Ende Dezember 1944 als "Kanonenfutter" in den Krieg geschickt wurde, und er wusste nicht, wo sein Vater Karl Nolte sich zu diesem Zeitpunkt befand: im KZ Neuengamme, verhaftet im August 1944 in der sogenannten Aktion Gewitter.

Vorerst kamen die Jungen in ein Lager des Reichsarbeitsdienstes nahe der Ostfront. Als sich die Rote Armee dem Ort näherte, wurde das Lager geräumt und mein Vater zu einer Maschinengewehr-Gruppe befohlen. Sie bildeten eine Einheit des Reichsarbeitsdienstes im Wehrmachtseinsatz. Der Trupp meines Vaters hatte das Lager des Reicharbeitsdienstes Anfang Januar mit 256 Mann verlassen. Zwei Monate später wurde mein Vater in ein Lazarett überführt. 34 dieser Jungs hatten die zwei Monate überlebt.

Lebensthema: Nie wieder Krieg!

An den traumatischen Erlebnissen hat er ein Leben lang gearbeitet. Sein Lebensthema war „Nie wieder Krieg“ und immer wieder die Frage, wie es zu dieser Schreckensherrschaft kommen konnte, wie es zu der wegschauenden und schweigenden Mehrheit kommen konnte.

Von welchem Deutschland könnte ich ihm heute erzählen?

Die Gewalt dieser Tage in Israel und der Ukraine geht uns in besonderer Weise nahe, sie betrifft uns. Es gibt hier keine historische Distanz, hinter der wir uns verstecken können. Finden wir Worte für das Grauen? Welche Haltung haben wir? Würden wir einem angemessenen Gedenken gerecht werden, wenn wir keine Haltung zu diesen Verbrechen entwickeln?

Von welchem Deutschland würden wir erzählen?

Die terroristischen Angriffe der Hamas auf Israel haben massive Auswirkungen für Jüdinnen und Juden in Israel, weltweit und bei uns, es sind die schlimmsten Angriffe gegen jüdisches Leben seit 1945.

„Es ist naiv und zynisch, diesen Terror als Widerstand zu bezeichnen, er richtet sich gegen die Existenz Israels und gleichzeitig gegen die Freiheit und Selbstbestimmung der Palästinenser*innen.“

Ich weiß darum und es schmerzt mich, dass auch auf der palästinensischen Seite Menschen in hohem Maße leiden, verletzt und getötet werden.

Juden haben keinen sicheren Ort

Nach den Verbrechen der Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus macht es mich in besonderer Weise fassungslos: Juden haben keinen sicheren Ort, nirgendwo!

Am 6. Dezember 1941 verließ ein Zug mit etwa 800 Juden den Hannoverschen Bahnhof – heute Gedenkort "denk.mal Hannoverscher Bahnhof" - ins Ghetto von Riga. An diesem Tag wurden insgesamt 136 Jüdinnen und Juden aus Schleswig-Holstein deportiert. Mit dem Transport aus Lübeck wurde auch die Familie Jaschek aus Bad Schwartau verschleppt. Judith Lucy und Eugen Jaschek mit ihren Kindern Jürgen und Jochen. Jürgen hat als einziger der Familie überlebt. Jürgen und mein Vater kannten sich aus Kindertagen. Sie wurden als alte Männer einander gute Freunde.

Mit Kimberly Yashek, der Tochter von Richard J. Yashek, dem früheren Jürgen Jaschek, habe ich im letzten Jahr den Gedenkort "denk.mal Hannoverscher Bahnhof" und die KZ-Gedenkstätte Neuengamme besucht.

Von welchem Deutschland werde ich Kimberly Yashek heute erzählen?

Unser gemeinsamer Besuch und die Begegnung mit den Kuratorinnen des dort entstehenden Dokumentationszentrums über Verfolgung und Deportationen der Jüdinnen und Juden und Sinti und Roma haben mich tief bewegt. Sie haben mich letztlich auch dazu bewegt, die Auseinandersetzung mit meiner Familienbiographie in mein erinnerungspolitisches Engagement münden zu lassen: hier in Bad Schwartau und darüber hinaus.

Neue Netzwerke sind entstanden

Das war und ist ein intensiver Prozess, ein Austausch mit vielen Personen, Menschen, mit denen ich schon lange unterwegs bin und anderen mit denen wir, mit denen ich neu im Austausch bin, teilweise explizit wg. deren Expertise im Austausch bin. Neue Netzwerke sind entstanden.

Besonderer Dank gilt hier meiner Frau Marion Barsuhn, die den Nachlass meiner Eltern komplett gesichtet und vorsortiert, Urkunden übersetzt, Zusammenhänge hergestellt hat.

Mein Dank gilt aber auch Dr. Kristina Vagt und Volker Lanatowitz. Zusammen bilden wir die Initiative „Ge(h)denken Bad Schwartau“. Sie haben ihre Wahrnehmungen, ihren Blick, ihrer Recherche und Expertise eingebracht.

Wie leben wir mit den Erfahrungen von und den Erinnerungen an Gewaltherrschaft in Europa? Welche Worte, welchen Ausdruck der Trauer und des Gedenkens haben wir, suchen wir?

Wie gedenken wir...?

Wie gedenken wir der Soldaten, die in den Weltkriegen starben, der Menschen – Frauen, Kinder, Jugendliche, Alte -, die durch Kriegshandlungen oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtende ihr Leben verloren?

Wie gedenken wir derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, durch die Nationalsozialisten rassifiziert wurden, Teil einer Minderheit waren oder deren Leben wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert erachtet wurde?

Wie gedenken wir derer, die ums Leben kamen, weil sie Widerstand gegen Gewaltherrschaft geleistet haben, und derer, die den Tod fanden, weil sie an ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben festhielten? 

Wolfgang Schneiderhan, von 2002 bis 2009 Generalinspekteur der Bundeswehr und seit 2014 Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge sagte anlässlich der Zentralen Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag am 13. November 2022 im Bundestag:

„ … 60 bis 70 Millionen Menschenleben hat allein der Zweite Weltkrieg gefordert, darunter circa sechs Millionen Soldaten. Diese Soldaten sind ebenfalls Opfer des nationalsozialisti-schen Größen- und Vernichtungswahns. Als Teil der verbrecherischen Kriegsmaschinerie waren sie aber auch Täter und Mittäter – ganz unabhängig von persönlicher Schuld. …“ so weit Schneiderhan.

Wie können wir der Widerstandskämpferinnen und -kämpfer und der Verfolgten und Opfer der Zeit des Nationalsozialismus gedenken? Und gleichermaßen an die gefallenen deutschen Soldaten des zweiten Weltkrieges erinnern, jener also, die (wie Schneiderhan sagt) im Dienst einer „verbrecherischen Kriegsmaschinerie“ standen? Aber dabei diejenigen mitdenken, die auf der anderen Seite gefallen sind?

Zeichen und Formen des Gedenkens

Welche Zeichen, welche Formen des Gedenkens finden wir in Bad Schwartau am Volkstrauertag 2023?

Wir werden nach dieser Feierstunde den Ehrenhain im Riesebusch und den Rensefelder Friedhof aufsuchen. Lassen Sie uns in Gedanken den Weg schon einmal gehen, und zwar in umgekehrter Reihenfolge: zuerst auf den Rensefelder Friedhof, dann in den Riesebusch und zuletzt wieder hierher, in die Mensa des Gymnasiums am Mühlenberg.

Auf dem Rensefelder Friedhof werden wir am Mahnmal für die Opfer und Verfolgten der Zeit des Nationalsozialismus innehalten. Eine schlichte Ziegelmauer, eine helle verputzte Fläche. Zwei Schriftzüge:

UNRECHT WAR UNSER TOD
„DEN LEBENDEN ZUR MAHNUNG DEN KOMMENEN ZUR WARNUNG“

Zu beiden Seiten des Lateinischen Kreuzes die Kennzeichnungen von Lagerhäftlingen in den Konzentrationslagern. Zur linken Seite: Zwei aufeinandergesetzte Dreiecke, Winkel, die einen sechszackigen Stern bilden als Zeichen für jüdische Häftlinge. Zur rechten Seite: Ein auf der Spitze stehendes Dreieck. Mit diesen Zeichen, in verschiedenen Farben und ggf. mit Zusatzzeichen, wurden die Häftlinge in über 30 Gruppen unterteilt. Diese offene Ausdifferenzierung ist an Zynismus nicht zu überbieten.

Gezeichnet von dem Erlebten

Mein Vater erinnert sich an den Bau des Mahnmals:

Nach dem Krieg war Hermann Paetau Bürgermeister unserer Stadt. Hermann Paetau kannte unsere Familienverhältnisse. …. Meinen 17. Geburtstag erlebte ich in Frankreich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Ich war zwar nicht verwundet – aber gezeichnet von dem, was ich erlebt hatte. Wieder zu Hause in Bad Schwartau brauchte ich Halt und Orientierung. Hermann Paetau hatte das wohl erkannt. Halb forderte er mich auf und halb ging ich aus eigenem Antrieb und half beim Bau des Mahnmals. Im Kreise dieser Männer, die alle ein KZ Lager überlebt hatten, fühlte ich mich angenommen als Gleicher unter Gleichen. Ich war innerlich froh und auch erfüllt beim Bau dieses Mahnmals mitzuhelfen – und Menschen ein ehernes Zeichen zu setzen, dass alle zur Erinnerung mahnt….

Das Mahnmal erinnert mich an die dunkelsten Tage der deutschen Geschichte. Das Mahnmal ist für mich ein Wegzeichen – ein Orientierungspunkt für persönliches aber auch für gesellschaftliches Handeln. Alles, was dieses Mahnmal für mich bedeutet, kann ich in zwei Sätzen zusammenfassen: Nie wieder Diktatur! Nie wieder Krieg!“

Bevor wir am Mahnmal für die Opfer und Verfolgten der Zeit des Nationalsozialismus auf dem Rensefelder Friedhof innehalten, werden wir im Riesebusch sein, im Ehrenhain, dem Ort, an dem der gefallenen Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkrieges gedacht wird.

Ein Blick auf den Ehrenhain

Ich teile den Blick auf den Ehrenhain von Dr. Stephan Linck, Studienleiter für Erinnerungskultur der Evangelischen Akademie der Nordkirche, mit dem ich als Beauftragter Kirche und Rechtsextremismus seit langem kollegial verbunden bin. Dr. Linck hat Kriegerdenkmäler in Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern in seinem Projekt Denk Mal! ausführlich beschrieben und eingeordnet. So auch die Anlage hier in Bad Schwartau.

Die Anlage für die toten Soldaten des Ersten Weltkriegs:

Die Anlage für die toten Soldaten des Ersten Weltkriegs wurde vom Gartenarchitekten Harry Maasz 1918 geschaffen. Stephan Linck sieht „die Schönheit und die künstlerische Qualität der Anlage“ , aber auch Verstörendes.

Die Anlage erinnert an eine Kathedrale, hier kann ein Ort für Trauer sein. Wer die Anlage so wahrnimmt, kann das ca. sieben Meter hohe Monument als Altar wahrnehmen. Mich verstört das Monument.

Stephan Linck schreibt:

Wir sehen in dem schmalen Bauwerk ein Schwert, das in den Boden gerammt ist. In der Sprache des Militärs ist es das Zeichen der Aufgabe, der Kampf wird beendet. Allerdings wurde nach dem verlorenen Krieg auf der Suche nach einer Symbolik für die zu errichtenden Kriegerdenkmäler auch auf die Siegfriedsage, die germanische Variante eines schwertkämpfenden Helden, zurückgegriffen. So, Stephan Linck zitiert hier die Historikerin Loretana de Libero, so »sollte nach dem Willen von Künstlern und Stiftern ein in den Boden versenktes Schwert die Erwartung versinnbildlichen, es möge alsbald ein neuer Siegfried kommen, der den blanken Stahl zum erneuten Kampf herauszöge.«“

Ob mein mit 18 Jahren gefallener Großonkel, Ernst Nolte, dessen Namen wir auf einem Gedenkstein lesen können, erneut zum Kampf ausziehen wollte?

Die Anlage für die toten Soldaten des Zweiten Weltkriegs:

Im Jahr 1957 folgte eine Erweiterung für die toten Soldaten des Zweiten Weltkriegs. Hier zentral die stilisierte Figur „Der sterbende Soldat“. An der Seite des Steinblocks entdecken wir das Signet des Künstlers Jürgen Maass.

Wieder zitiere ich Stephan Linck:

„Jürgen Maass war der Sohn des Gartenarchitekten Harry Maasz, der die Anlage zum 1. Weltkrieg gestaltet hat. Jürgen Maass feierte seine größten Erfolge in der NS-Zeit. Im Unterschied zu seinem Vater, der seinen Namen mit »SZ« schrieb, hat sich Jürgen Maass für ein doppeltes »S« entschieden. Das gab ihm die Gelegenheit die SS-Runen in seinem Signet zu verwenden, sie heben sich auffällig ab von den anderen Buchstaben.“

Was sind das für Schlachten?

„Der Aufstieg zum Soldaten beginnt an der linken Seite der Anlage:“

Auf einem Sandweg geht es „zum höher gelegenen Denkmal. … Zum Wald hin sind, wie auch auf der rechten Seite, vor vereinzelten Rhododendren Steinkreuze aufgestellt, die jeweils eine Zahl der Kriegsjahre bzw. den Ort einer Schlacht im 2. Weltkrieg benennen. Was sind das für Schlachten? Es sind Schlachten, die von der nationalsozialistischen Propaganda als Beispiele für das heldenhafte deutsche Soldatentum benutzt wurden. Diese Namen standen in Deutschland für tapfere Kämpfe, die entweder siegreich waren oder dem Feind größte Verluste zufügten.“ 

Aufsteigend zum Denkmal die Jahreszahlen 1939, 1940, 1941 – die Schlachten: Narvik, Dünkirchen, Tobruk.

„Wir gehen jetzt am »sterbenden Soldaten« in seinem Sarkophag vorbei und beginnen den Abstieg, man könnte auch sagen: den Niedergang der Deutschen Wehrmacht.“ 

Die Jahreszahlen 1942, 1943, 1944. Dann ein Steinkreuz mit der Inschrift ‚Kurland‘.

„Kurland war und ist ein Teil von Lettland. Nach Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges 1941 war das lettische Territorium bis zur schrittweisen Rückeroberung durch die Rote Armee ab Sommer 1944 von deutschen Truppen besetzt“ 

Wessen wird hier, im Jahr 2023, kommentarlos gedacht? Ist es nicht „die verbrecherische Kriegsmaschinerie“, von der Schneiderhan spricht? Im Halbrund vor dem Denkmal stehen Steinkreuze mit weiteren Namen von Schlachtorten: Wolchow, Stalingrad, Monte Cassino.

Die Auswahl der Stichworte ist befremdlich

Die Auswahl der Stichworte auf den Steinkreuzen ist befremdlich. Geht es hier 1957 -zwölf Jahre nach Ende des Krieges um Trauer für tote Soldaten, um ein Zurückblicken auf die Gräueltaten des „Dritten Reichs“? Oder um eine, obgleich nicht siegreiche, so doch „saubere“ Wehrmacht?

Der Ehrenhain im Riesebuch gehören zu qualitätvollsten Anlagen im Lande und stehen unter Denkmalschutz. Zusammen mit aufklärenden, kommentierenden Tafeln könnte hier ein Lernort entstehen, analog und virtuell. Das Material von Dr. Stephan Linck steht nach Absprache zur Verfügung!

Zurück in die Gegenwart 

Kehren wir nun zurück hierher, in die Mensa:

Zum praktizierten Gedenken am Volkstrauertag in Bad Schwartau gehört auch das ‚Gedenkbuch für die gefallenen und vermißten Soldaten des zweiten Weltkrieges (1939 – 1945)‘. Dieses Gedenkbuch lag viele Jahre, so auch das letzte Jahr, zum Volkstrauertag im Rahmen der Gedenkfeier aus und war einsehbar. Es ist ein positives Zeichen, ein erster Schritt, dass das Gedenkbuch dieses Jahr nicht ausliegt. 

Das Gedenkbuch wurde am Volkstrauertag, 17. November 1991, vom Gemeinnützigen Bürgerverein Bad Schwartau in die Obhut der Stadt übergeben. Damit trägt die Stadt Bad Schwartau die Verantwortung für den Umgang mit dem Werk.

Erstellt hat es der damalige erste stellvertretende Vorsitzende des Gemeinnützigen Bürgervereins Georg Harders. Der erste Band dokumentiert die Übergabe an die Stadt und die Ehrung Georg Harders. Damit wurde ein Mann gewürdigt, der zuletzt im Rang eines SS-Hauptsturmführers im Rasse- und Siedlungshauptamt tätig war und in dieser Rolle unter anderem an Wannsee-Folgekonferenzen teilgenommen hat.

Mit Georg Harders hat ein Mann die Gedenkbücher zusammengetragen, dessen Kontinuität im nationalsozialistischen Denken sich in Archiven und öffentlich zugänglichen Quellen bis 1997 nachzeichnen lässt. Im August 1997 erschien ein rassistischer, insbesondere auch antisemitischer „Aufruf an alle Deutschen zur Notwehr gegen die Überfremdung - Der Völkermord am Deutschen Volk“. Auf der Unterzeichnerliste findet sich neben prominenten Neonazis und Holocaustleugnern auch „Georg Harders, Bad Schwartau“.

Erinnerung an Unrecht stärkt Demokratie

Es ist überfällig, sich mit den Gedenkbüchern, ihrem Entstehungsprozess und Georg Harders auseinander zu setzen und die Befunde sowie die Auseinandersetzung damit öffentlich sichtbar, zugänglich zu machen. Erinnerung an Unrecht und Diktaturgeschichte sind ein notwendiger Weg zur Stärkung unserer Demokratie.

Lassen Sie mich, ohne vorgreifen zu wollen, einige erste Befunde vorstellen.

Im Gedenkbuch wird 474 der „nicht wieder heimgekehrten Soldaten aus Bad Schwartau“ gedacht. Zitat: „Mit diesem Gedenkbuch wollen wir unseren nicht wieder heimgekehrten Soldaten ein ehrendes Andenken in ihrer Heimatstadt bewahren, in der Hoffnung und Erwartung, daß die Pflege ihres Andenkens eine immerwährende Aufgabe bleibt.“

„Ehrendes Andenken“. Im Gedenkbuch finden wir 17 SS-Mitglieder, die mit ihrem SS-Dienstgrad benannt werden. Wir erfahren nicht, ob sie im Dienst der SS gestorben sind oder ob sie persönlich oder ihre Einheiten der Wehrmacht unterstellt waren. Hier sind weitere Recherchen unabdingbar. Beispielsweise sei der im Gedenkbuch genannte Hans Tesenfitz, SS-Sturmbannführer und Polizeidirektor in Hamburg, gestorben am 14. April 1945 beim Bombenangriff in Hamburg, erwähnt.

"Ehrendes Andenken" auf den Prüfstand 

Er war bis Juli 1943 stellv. Leiter der Staatspolizeileitstelle Hamburg, danach stellvertretender Kommandeur der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (Abkürzung SD) in Maribor (Slowenien, deutsch: Marburg/Drau), ab Mai 1944 Untersuchungsführer beim Inspekteur der Sicherheitspolizei und des SD (IdS) Stuttgart.

Im August 1943 war Hans Tesenfitz in Maribor beteiligt an dem Unternehmen Radetzky. Es ging darum, jüdische Hilfsorganisationen in Italien zu unterwandern. Die Akte des Reichssicherheitshauptamtes dazu ist online einsehbar. All das und noch mehr zu recherchieren, hat nur wenige Stunden gebraucht.

Wir sind mitten im NS-Terrorapparat. Die SS war das wichtigste Terror- und Unterdrückungsorgan im NS-Staat.

Welche Zeichen, welche Formen des Gedenkens finden wir in Bad Schwartau am Volkstrauertag 2023? Meine Ausführungen sind nur ein Ausschnitt. Wir müssen hinschauen, wahrnehmen.

Wir müssen hinschauen, wahrnehmen!

Es braucht sicherlich andere Formen der Auseinandersetzung, des Erinnerns, des Gedenkens! In Bad Schwartau. Ein Referenzpunkt unseres Gedenkens und einer lebendigen Erinnerungskultur soll und muss die Förderung demokratischer Resilienz sein. Angesichts von allgemeinen antidemokratischen Stimmungen und Ereignissen ist es notwendig, darüber nachzudenken, wie in diesem Sinne die Öffentlichkeit und insbesondere Jugendliche erreicht werden können und die Erkenntnisse zum Beispiel in die Schulen getragen werden können und junge Menschen sich für ein Erinnern einbringen können. Das wären sicherlich Themenpunkte, die auch in Bad Schwartaus Partnerstädten im europäischen Ausland wohlwollend aufgenommen würden.

Gedenken und Erinnerung an Unrecht und Diktaturgeschichte sind ein notwendiger Weg zur Stärkung unserer Demokratie. Dafür muss die Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch gegenwartsbezogen sein und die Fragen, wenn nicht endgültig beantworten, so doch stellen: „Was hat das mit mir zu tun? Wie wollen wir heute miteinander umgehen?“

Was hat das mit mir zu tun?

Für gegenwartsbezogenes Erinnern braucht es viel mehr Wissen, als derzeit in Bad Schwartau zugänglich ist. Anfänge sind gemacht: Da wäre die Ausstellung " Bad Schwartau unter dem Hakenkreuz 1929 - 1945: Eine Ausstellung über die Weltwirtschaftskrise und das 3. Reich in Bad Schwartau und Rensefeld...", recherchiert und erstellt von Manfred Bannow-Lindtke. Mein Vater Hans Nolte hat die Ausstellung vor 30 Jahren eröffnet. Die Rede befindet sich in seinem Nachlass.

Die verdienstvollen Recherchen und die Arbeit des damaligen Bad Schwartauer "Arbeitskreises 30. Januar“ in den 1990er Jahren und Anfang der 2000er Jahre sind hier zu erwähnen.

Anlässlich des 90. Jahrestages der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die beeindruckende Wanderausstellung „Auftakt des Terrors“ über die frühen Konzentrationslager im April und Mai diesen Jahres hier im Gymnasium am Mühlenberg gezeigt. In seinem Eröffnungsvortrag hat unser Stadtarchivar Sven Reiß aber sehr deutlich gemacht, dass wir tatsächlich und trotz allem noch immer am Anfang stehen!

Erinnerungskultur aktiv gestalten und leben

Erinnerungskultur ist zu keiner Zeit ein erfolgreich abgeschlossenes Projekt, sondern ein immer wieder neu und zeitgemäß zu gestaltender Prozess. Angesichts aktueller Gefährdungen der Demokratie durch Erstarken rechtsextremer Aktivitäten und eines weit verbreiteten Geschichtsrevisionismus leistet eine aktiv gestaltete und gelebte Erinnerungskultur einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der Demokratie.

Mit einem Zitat von Nino Haratischwili komme ich zum Schluss:

„Früher, … habe ich mich oft gefragt, was wohl wäre, wenn das kollektive Gedächtnis der Welt andere Dinge erhalten und wiederum andere verloren hätte. Wir entscheiden uns dafür, an was wir uns erinnern wollen und an was nicht.“

Von welchem Land, von welchem Deutschland werde ich heute am Volkstrauertag im Jahr 2023 meinem Großvater, der seine Seele im KZ Neuengamme verloren hat, erzählen? Was werde ich meinem im Jahr 2015 verstorbenen Vater, der vor 30 Jahren hier in Bad Schwartau als stellvertretender Bürgervorsteher die Rede zum Volkstrauertag gehalten hat, sagen?

Ich werde ihnen sagen: Wir erinnern uns nicht aus der Sicht derer, die die Geschichte bestimmt haben, sondern für die Menschen, die stumm bleiben mussten!

Bei allem Erschrecken heute noch, bei all dem Widersprüchlichen und blinden Flecken. Ich werde mitwirken an einer Erinnerungskultur, die hinschaut, die wahrnimmt, die benennt, an einer Erinnerungskultur, die die demokratische Resilienz stärkt. Machen wir es zusammen!