Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg Pröpstin Kallies stellt beim Johannisempfang die "Gretchen-Frage"

Wie hängen Religion und Gesellschaft zusammen und welches verbindende Element hat der Glaube? Darum ging es im Vortrag von Petra Kallies. Copyright: Oliver Beck

Lübeck. Beim traditionellen Johannisempfang stellte Pröpstin Petra Kallies im Lübecker Dom ihren Gästen in diesem Jahr die berühmte Gretchen-Frage "Nun sag‘, wie hast du‘s mit der Religion?".

Impulsvortrag vor 80 geladenen Gästen

Welchen Wert hat die Religion für die Gesellschaft? Eine Frage, die sich angesichts aktueller Umfrage-Ergebnisse des NDR und sinkender Mitgliederzahlen geradezu aufdrängt. Vor rund 80 geladenen Gästen beleuchtete Pröpstin Petra Kallies das Thema von unterschiedlichen Seiten.

Zerfällt die Gesellschaft in kleine Interessensgruppen?

Was passiert, wenn die Religion als verbindendes Element in der Gesellschaft nicht mehr die Kraft entfaltet, die sie einmal hatte, wenn religiöse Kultur abhandenkommt? Diesem Gedanken ging Petra Kallies in ihrem Impulsvortrag nach. "Was wird an ihre Stelle treten? Was wird die Gesellschaft davon abhalten, sich in immer kleinere Interessensgruppen zu atomisieren, wenn auch andere Bindekräfte, wie das demokratische System zunehmend infrage gestellt werden? Was, wenn ein Egoismus ohne Rücksicht auf den Mitmenschen und größere Zusammenhänge überhandnimmt?"

Glaubenserfahrung fördert ethische Orientierung

Religion an sich habe zwar keinen unmittelbaren "Zweck", so die Pröpstin, aber sie könne eine inspirierende und verbindende Wirkung in der Gesellschaft entfalten und das Aushandeln von Gemeinschaft fördern. "Aus einer persönlichen Gotteserfahrung ergeben sich Fragen. Daraus erwächst Theologie, die Lehre von Gott – oder vielleicht anders gesagt: das reflektierte Nachdenken über Gott und unsere Beziehungen zu Gott. Wir Menschen fragen: Weshalb existiere ich? Wie kann ich mein Verhältnis zu meiner Umwelt verstehen? Wie kann ich gut und wie richtig leben?"

"Wir müssen über Rassismus und Sexismus reden"

Auch die Theologie müsse sich immer den Fragen ihrer Zeit stellen, betonte Kallies: "Von Jesus wird erzählt, dass er sich ständig in theologische Streitgespräche verwickeln ließ, und er das Ringen darum, wie man glauben und leben könne, gerne öffentlich austrug – vor aller Augen und Ohren auf dem Marktplatz." Theologie müsse eine Haltung finden und Stellung beziehen. "Und deshalb müssen wir auch über Rassismus und Sexismus reden, solange Menschen unter uns tagtäglich Diskriminierung erleben müssen."

Den Mut finden, vom Glauben zu erzählen

Es erfordere in der heutigen Zeit Mut, "uns als gläubige Menschen zu outen und zu erzählen, weshalb es uns guttut, an Gott zu glauben" - vor allem in außerkirchlichen Bereichen. "Ich glaube, da kommt es auf jede und jeden von uns an".

Beim anschließenden Empfang im Ostchor des Doms wurde in vielen Gesprächen weiter über die "Gretchen-Frage" diskutiert - auch über Kirchenaustritte.

Gäste diskutieren über die "Gretchen-Frage"

"Man sollte sich lieber aktiver in der Kirche einbringen als auszutreten. Warum haben die Gläubigen nicht selbst mehr unternommen?", fragt die pensionierte Lehrerin Angelika Leder aus Schwartau. Sie selbst ist katholisch, bezeichnet sich aber als Wanderin zwischen den Welten, da sie auch im evangelischen Bereich sehr aktiv sei. Sie würde sich wünschen, dass evangelische und katholische Kirche enger zusammenwachsen.

Kinder und Jugendliche lernen Religion oft nicht kennen

Unter den Gästen ist auch Halime Nur Ölmez. Die Studentin ist die zweite Vorsitzende der Lübecker DITIB-Gemeinde: "Es ist schön, das Thema aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Für uns ist Religion ein Bestandteil des Lebens, aber es gibt auch Kinder und Jugendliche, die damit nicht aufwachsen. Ich glaube, dass wir eine Zeit haben, in der viele etwas suchen, womit sie sich identifizieren können. Viele Jugendliche sind damit überfordert. Religion kann ein Zufluchtsort sein, etwas, woran man sich festhält, aber junge Erwachsene müssen oft erstmal zu sich finden."

Es sei heutzutage schwierig, den Weg des Spirituellen überhaupt für sich zu entdecken, so Ölmez. "Ich denke, da könnte es noch mehr geben, womit man junge Erwachsene ins Boot holen kann."

"Wie erreicht man die, die nicht mehr kommen?"

Es ist die große Frage, die viele beschäftigt: "Wie erreicht man die, die nicht mehr kommen?" Auch Werner Thieme vom Kirchengemeinderat der Gemeinde St. Andreas in Schlutup und seine Frau Anke treibt diese Frage um: "Meine Erfahrung ist, dass jeder einen Zugang zu Gott in sich trägt." Er sei selbst schon mal aus Kirche ausgetreten, so Thieme, habe aber nach der Geburt seines Sohnes wieder den Weg zurückgefunden. Seine innere Verbindung zu Gott sei seine Konstante im Leben.

"Im Kirchengemeinderat machen wir uns viele Gedanken, was wir tun können, damit wieder mehr Leute in die Kirche kommen. Aber es scheint noch nicht zu reichen. Das ist ein großes Thema." Seine Frau ergänzt: "Damit wieder mehr jüngere Menschen kommen, müssten Gottesdienste reformiert werden. Sie müssten andersartig sein und auch zu anderen Zeiten stattfinden. Vieles spricht heute kaum noch jemanden an."

Zum Abschluss des Abends wird es noch einmal ganz still und dann spielt Organist Johannes Unger "Salut d’Amour" von Edward Elgar am Klavier. Pröpstin Kallies gibt den Gästen einen Segen mit auf den Weg und vor dem Dom wird beim Bühnenprogramm zum 850. Jubiläum an diesem Sommerabend noch ein wenig weiter gefeiert.

Den Impulsvortrag der Pröpstin gibt es in Kürze auch als Video online abrufbar.