Jeder Flüchtling ist ein Mensch mit einer eigenen Geschichte: Pröpstin Petra Kallies fordert, bei der Diskussion um die geplante Abschiebung von Flüchtlingen das individuelle Schicksal jedes Einzelnen in den Blick zu nehmen.
Jeder Flüchtling ist ein Mensch mit einer eigenen Geschichte: Pröpstin Petra Kallies fordert, bei der Diskussion um die geplante Abschiebung von Flüchtlingen das individuelle Schicksal jedes Einzelnen in den Blick zu nehmen.
Das neue Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz zwinge die Behörden zu einer „zutiefst inhumanen Abschiebepraxis“, so die Pröpstin. Denn den Behörden bleibt wenig Spielraum. „Nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise darf der Termin der Abschiebung dem Ausländer nicht angekündigt werden", heißt es in § 59. Das heißt im Klartext: Sobald ein Negativbescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vorliegt, droht Abschiebung; unangekündigt, auch nachts, auch Familien, Kranke und Schwangere. „Es wäre wünschenswert, wenn Herr Saxe sich an dieser Stelle für eine sofortige Verbesserung einsetzt“, fordert Kallies. „Diese verschärfte Gesetzgebung kann keine geordnete und humane Praxis begründen, wie Herr Saxe behauptet. Das ist Augenwischerei und entspricht nicht den Realitäten. Uns sind Fälle bekannt, in denen auch in Lübeck Menschen nachts abgeschoben wurden und Fälle, in denen Familien mit kleinen Kindern auseinandergerissen wurden.“
Für das Kirchenoberhaupt von 175.000 Gläubigen im Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg ist besonders wichtig, den einzelnen Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren. „Für uns gibt es keine Flüchtlinge verschiedener Klassen“ betont sie „Jeder Einzelfall muss geprüft werden. Auch die Annahme, nur weil jemand aus einem Land in Europa stammt, könne er oder sie nicht verfolgt sein, ist schlichtweg Unsinn.“ Es gebe Rechtsgutachten von Menschenrechtsorganisationen, die die kategorische Einstufung der Westbalkanländer als sichere Herkunftsländer in Frage stellen. „Auch bei anderen Herkunftsländern wie z.B. Afghanistan ist die Klassifizierung „ohne Bleibeperspektive“ angesichts der tatsächlichen Gefährdungslage höchst problematisch“, so Kallies.
Die Lübecker Bürger haben das verstanden. In vielen Gemeinden und Einrichtungen engagieren sich unzählige Menschen ehrenamtlich für die Flüchtlinge, ungeprüft, ohne Bedingungen. „Es ist wunderbar zu erleben, mit welchem Einsatz und auch mit welcher Begeisterung so viele Lübeckerinnen und Lübecker ihre Hilfsbereitschaft tagtäglich unter Beweis stellen. Und diese gelebte Nächstenliebe unterscheidet nicht. Sie wägt nicht ab, sondern ist offen für jeden einzelnen Menschen, der bei uns Schutz und Hilfe sucht. Für dieses Engagement bin ich sehr dankbar.“
Es sei wichtig, sich in der aktuellen Debatte immer wieder die Genfer Flüchtlingskonvention in Erinnerung zu rufen, die 1951 vor allem nach den Erfahrungen des fehlenden Schutzes vor den Nationalsozialisten verabschiedet wurde. Um Asyl ersuchen können danach Menschen „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung“ (GFK Art. 1, A 2.).
Die allerneusten Vorschläge des Bürgermeisters, über den Lübecker Flughafen abgelehnte Flüchtlinge abzuschieben, sieht die Pröpstin kritisch. Damit sei immer auch die Errichtung eines gefängnisartigen Bereichs verbunden, was einer pauschalen Kriminalisierung der Menschen gleichkomme. Für abgelehnte Asylsuchende sei dagegen eine kompetente Beratung wichtig, die den Menschen in ihrer Muttersprache die vorhandenen Hilfsangebote bei einer freiwilligen Rückreise erläutert. „Vielen Menschen ist beispielsweise die Westbalkanregelung nicht bekannt“, sagt sie. „An dieser Stelle ist mehr Personal bei der Stadt sinnvoll.“
Hintergrund: Gemeindediakonie und Vorwerker Diakonie leisten professionelle Hilfe
Im Jahr 2015 kamen rund 2500 Asylsuchende nach Lübeck. Im Auftrag der Hansestadt und des Landes Schleswig-Holstein betreut, berät und begleitet die Gemeindediakonie Lübeck e. V. Flüchtlinge von der Ankunft in Lübeck bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens, bei Bedarf auch darüber hinaus, gleichwertig, ohne Ansehen ihrer Herkunft oder Religion. Die Asylsuchenden sind zunächst in Gemeinschaftsunterkünften, angemieteten Hotels und Wohnungen untergebracht – derzeit an rund 50 Standorten. Nach Bezug einer eigenen Wohnung werden sie noch bis zu einem Jahr weiterhin beratend begleitet.
Etwa 70 Mitarbeitende der Gemeindediakonie, die meisten von ihnen Erzieherinnen und Erzieher, sind für die Betreuung der Flüchtlinge eingesetzt. Sie begleiten sie zu Behörden und Ärzten, vermitteln Dolmetscher, stehen den Bewohnern bei der Lösung alltäglicher Probleme bei, helfen bei der Suche nach Schulen und Kita-Plätzen. Eine wichtige Aufgabe ist auch, die Asylsuchenden in Lübeck zu vernetzen, ihnen Einrichtungen wie die Familienhilfe, das Jobcenter, die Gesundheitsstation oder ähnliches vorzustellen. Ziel ist es, den Flüchtlingen möglichst schnell so viel Selbständigkeit zu vermitteln, dass sie die Gemeinschaftsunterkünfte verlassen und in eine eigene Wohnung ziehen können.
Damit Integration gelingen kann, bietet die Gemeindediakonie den Asylsuchenden darüber hinaus Sprachkurse, Sprachpartnerschaften und verschiedene Möglichkeiten der Alltagsgestaltung an. Hierfür standen bislang weder Landes- noch Bundesmittel zur Verfügung, so dass diese Angebote durch Spendengelder finanziert werden.
Durch das neue Modellprojekt jmd2start werden junge Flüchtlinge im Alter von 12 bis 27 Jahren inzwischen auch vom Jugendmigrationsdienst der Gemeindediakonie beraten. Bisher konnten nur Migranten mit anerkanntem Aufenthaltsstatus die Beratung in Anspruch nehmen.
Vergangenes Jahr haben außerdem über 300 jugendliche Flüchtlinge ohne ihre Eltern und auf eigene Faust Lübeck erreicht. Sie wurden von der Vorwerker Diakonie aufgenommen, versorgt und in weiterführende Jugendhilfemaßnahmen vermittelt. Viele leben bereits in Jugendhilfeeinrichtungen oder betreuten Wohngemeinschaften, haben große sprachliche Fortschritte gemacht und bereits in der Schule Fuß gefasst.
Dazu Hans-Uwe Rehse, Geschäftsführer der Vorwerker Diakonie: „Eine Abschiebung ist für diesen Personenkreis, der unter besonderem Schutz steht, keine Option.“ In diesem Zusammenhang wird von ihm auch eine neue gesetzliche Regelung kritisiert, die eine veränderte Aufteilung der minderjährigen unbegleiteten Jugendlichen vorsieht. „Jetzt werden jugendliche Flüchtlinge für eine Weiterversorgung in eine andere Stadt oder ein anderes Bundesland geschickt, obwohl sie bereits vor einigen Wochen in Lübeck aufgenommen wurden. Oft haben sie schon Vertrauen und neuen Mut gefasst und plötzlich weist man ihnen wieder einen neuen Ort und neue Bezugspersonen zu. Dieses Verfahren ist unbedingt zu korrigieren. Anstelle einer Entscheidung nach Aktenlage ist zumindest eine intensive Einzelfallbetrachtung notwendig.“
Hier finden Sie die Erklärung der Kirchenleitung zur Flüchtlingspolitik vom 15.12.2015:
Download attachments: Kirchenasyl.pdf