Die Lübecker TelefonSeelsorge nimmt über viele Veranstaltungen die Generation der Kriegsenkel in den Blick. Die Pastoralpsychologin Marion Böhrk-Martin erzählt vom „German Problem“: über die Kriegsenkel und über die Folgen der Weitergabe von Traumata für den einzelnen Menschen, die Gesellschaft und das ganze Land. Marion Böhrk-Martin leitet die TelefonSeelsorge Lübeck und gehört selbst zur Generation der Kriegsenkel.
Festhalten am Alten oder rastloses Ungenügen: Wer sind die Kriegsenkel?
Marion Böhrk-Martin (MBM). Als Kriegsenkel bezeichnet man die Generation, die zwischen 1955 und 1975-80 geboren ist. Es sind die geburtenstarken Jahrgänge derjenigen, deren Eltern in der Nazizeit und im zweiten Weltkrieg Kinder und Jugendliche waren. Kriegsenkel werden sie genannt, weil da noch ein Zusammenhang besteht: ihre Eltern haben als Kinder traumatische Leiden erlebt. Sie saßen im Bombenhagel, verloren nahe Angehörige oder gingen selbst verloren. Sie bekamen die dramatischen Ängste von Erwachsenen mit, erlebten Vergewaltigungen mit, sie litten grausamen Hunger. Millionen verloren ihr Zuhause, ihre Heimat, wurden am neuen Wohnort als Flüchtlingen gedemütigt.
Wie ging es nach dem Krieg weiter?
MBM: Nach dem Krieg bekamen die allerwenigsten Hilfen, das Grauen zu verarbeiten. Sie wurden erwachsen, verdrängten, verleugneten ihr Leiden im Interesse des Funktionierens. Eine ungeheure seelische Leistung. Sie begannen mit der Wiederaufbauarbeit der jungen Bundesrepublik und der DDR. Der Preis war allerdings Gefühlsarmut, Kontrolliertheit, Misstrauen allem und jedem gegenüber, einen Hang zum Negativen und übersteigerte Ängstlichkeit. Dementsprechend haben sie ihre Kinder, die Kriegsenkel, erzogen. Was ihre nichtverarbeiteten Traumata anbelangt: die Forschung weiß inzwischen, dass diese dann an die nächste Generation weitergegeben werden.
Was zeichnet die Kriegsenkel aus?
MBM: Viele haben die gleichen Macken, Einschränkungen oder sogar psychische Störungen wie ihre Eltern. Sie fühlen sich selbst wie Flüchtlinge. Nicht nur, dass das Alte sie festhält, sie halten auch selbst am Alten fest: kommen manchmal vom Ort ihrer Geburt oder dem Elternhaus nicht los, manche auch nicht von ihren Eltern, in deren Schuld sie sich fühlen; sie haben diffuse Heimatsehnsüchte, die nicht wirklich gestillt werden können; hängen an alten Familientraditionen, als könnten diese sie in der Welt verankern.
Festhalten am Alten oder rastloses Ungenügen - ist das wirklich ein Problem?
MBM: Oberflächlich betrachtet war alles da und die Kriegsenkel sind behütet aufgewachsen: Vater, Mutter, Geschwister, Haus, sichere Arbeitsverhältnisse. Trotzdem erlebten sie zuweilen ein stilles Drama: Kälte, emotionale Leere, kein Kuscheln, diffuse Ängste, die niemand auffing. Deshalb ist bei vielen dieser Generation heute das Grundgefühl: Unsicherheit, Haltlosigkeit, immer auf der Hut sein müssen, keine längerfristigen Bindungen eingehen können, das Gefühl nirgendwo wirklich dazu zu gehören, ein Leben mit angezogener Handbremse.
Wie äußert sich diese emotionale Situation konkret?
MBM: Etliche haben sozusagen zwei Ichs: nach außen ein selbstbewusst wirkendes, sehr leistungsbereites, das allzeit bereit ist, auch am Wochenende oder im Urlaub noch Einsatz zu zeigen, um rechtzeitig abzuliefern; und darunter ein anders, das denkt: Hoffentlich merken die alle nicht, dass ich eigentlich eine Flachpfeife bin und gar nichts kann und den Abschluss eigentlich nur durch einen dummen Zufall geschafft habe. Nie zufrieden ist mit der eigenen Leistung, auf der sich mal darauf ausruhen könnte.
Wie sind Sie auf die Generation der Kriegsenkel gekommen?
MBM: Als ich anlässlich des 50. Jubiläums der TelefonSeelsorge Lübeck recherchiert habe, was in all den Jahrzehnten so los war am Telefon, sind mir immer wiederkehrende Konflikte und Probleme aufgefallen.
Welche waren das?
MBM: Verstrickte Familiengeschichten, die dazu führten, dass die Jüngeren sich zuweilen sehr intensiv in der Betreuung und Pflege des oft allein übriggebliebenen Elternteils manchmal regelrecht selber aufgaben oder als Abwehr dagegen sich gänzlich vom Elternhaus lösten und für immer verschwanden. Es gab aber auch immer wieder Klagen der alten Eltern über die undankbaren Kinder, die doch alles gehabt hätten und ihnen nun Vorwürfe machten, dass sie depressiv seien und Burnout hätten.
Erinnern Sie sich an einen konkreten Anruf?
MBM: Eine alte Frau beispielswese rief aus dem Altenheim an. Sie läge im Sterben und würde wenigstens eines ihrer vier Kinder so gern noch einmal sehen. Die wohnten doch alle in der Nähe und würden sie schon seit Jahren nicht mehr besucht haben. Ob die TelefonSeelsorge da nicht was machen könnte. Puh, das geht an die Nieren.
Und wie ist das aus der Sicht der Kriegsenkel?
MBM: Da sind die Klagen der Jüngeren über die Eltern, dass die so gefühlsarm seien und es immer nur darum gehe, dass man top funktioniere und sich eigentlich überhaupt nicht für sie und ihr Leben interessieren. Manche hatte es hart getroffen: sie hatten Eltern, die sie als Partnerersatz missbrauchten; Eltern, die die Rollen umdrehten und sich bei den Kindern holten, was sie selbst nicht bekommen haben. In solch desolaten Familien zogen unverarbeitete Kriegstraumata nicht selten wie eine Kette von weiteren Dramen nach sich: Scheidung, Alkoholismus, extreme Sprunghaftigkeit, manchmal sexuellen Missbrauch.
Sind die Kriegsenkel ein europäsches Phänomen?
MBM: Während eines internationalen TelefonSeelsorge-Kongresses in Wien habe ich die europäischen Kollegen nach ähnlichen Problemen über die Jahre gefragt. „German problem!“ antwortete ein englischer Kollege. Ich war überrascht und begann zu recherchieren, stieß auf die erste Kriegskinder- und Kriegsenkelliteratur. Ein großes Symposium über die Kriegskinder haben wir dann in Lübeck organisiert. Prof. Dr. Michael Ermann aus München war dabei. Sabine Bode, die damals ihre ersten Bücher über Kriegsenkel veröffentlicht hatte, ebenfalls. Das Thema bleibt und geht mit den Fachtagen und dem Themenabend Spurensuchen in die nächste Generation.
Sie sind Seelsorgerin und haben eine Ausbildung als Traumatherapeutin. Was ist eigentlich ein Trauma?
MBM: Wenn die Seele außergewöhnlich verwundet wird, dann erstarrt der Mensch körperlich vor Angst oder liegt hilflos entsetzt am Boden. Das ist die körperliche Seite. Psychisch kann das traumatische Erlebnis nicht verdaut werden. Da sind keine vorhandenen Ressourcen, um mit diesem Horror umzugehen. Jeder kennt Aussprüche wie „Ich kann es nicht fassen“ oder „Ich kriege es in den Kopf nicht rein!“ oder „Ich halte es im Kopf nicht aus!“. Man findet einfach keine Worte oder hat das das Gefühl, auseinanderzufallen! Der Kopf hilft sich selbst und schaltet ab, die Sicherung springt raus. Der Preis für diesen Schutz ist, dass die traumatische Situation nicht mehr im biografischen Langzeitgedächtnis gespeichert werden kann. Sie fliegt im Gehirn umher wie Splitter eine zerbrochenen Spiegels. Ohne Kontrolle. Zeitlich nicht eingeordnet. Und nicht besprechbar. Und das Drama ist: Die Spiegelsplitter können in Situationen der Übererregung auch Jahrzehnte danach wieder aktiviert werden: dann kommt es zu unvermittelten Ausbrüchen von Wut oder Trauer, Ausbrüchen sadistischer Gewalt, Starre, Verzweiflung, dann wiederum wirken Traumatisierte wie abgeschnitten von allen Gefühlen. Für Kinder nicht auszuhalten.
Wie begegnet man einem Trauma?
MBM: Für Kriegsenkel als auch die betroffene Elterngeneration, sofern sie noch lebt, gilt erstmal: wichtig ist, darum zu wissen, was Traumata sind und wie sie wirken. Auf neudeutsch nennt man das „Psychoedukation“. Es gibt Therapieformen, die sich speziell Traumatisierter und auch sekundärtraumatisierter Menschen wie Kriegsenkel annehmen können.
Gibt es noch mehr Möglichkeiten, sich damit auseinanderzusetzen?
MBM: Auch außerhalb von Therapie wäre es hilfreich, beispielsweise Informationen zu sammeln. Woher kommen Eltern, Großeltern und meine Urgroßeltern? Wie sind sie aufgewachsen, was waren sie von Beruf? Welche Tabus gibt es? War Opa vielleicht doch ein Nazi? Wenn ich keine Ahnung von meiner Familiengeschichte habe, kann ich sie emotional nicht aufarbeiten. Manchen gelingt es auch, mit den Eltern oder Großeltern ins Gespräch zu kommen. Fragen, zuhören, endlich in einen Gefühlskontakt kommen. Nicht nur die Kriegsenkel haben oft eine tiefe Sehnsucht danach, sondern auch die Eltern. Doch auch wenn das nicht mehr gelingt: wenn wir anerkennen können, wie tief viele von uns noch vom Krieg geprägt sind, können wir manches Unrecht, das uns geprägt hat, besser verstehen.
Sie gehören selbst zur Generation der Kriegsenkel: Wie ist das bei Ihnen persönlich?
MBM: Mir selbst hat auch geholfen, nach meinen Wurzeln zu suchen. Als ich zum ersten Mal nach Danzig kam, hatte ich das Gefühl: Hier ist Heimat. Das hat mich tief bewegt. Ich bin aus Erzählungen meiner Mutter so vertraute Wege gelaufen. Hab mir das Haus angesehen in dem sie gewohnt hat. Das kann sehr heilsam sein.
Was bringt dieser Prozess?
MBM: Wir haben die Möglichkeit, zu verzeihen. So werden wir frei für die Gegenwart. Das wäre gut. Wir können nachträglich lernen, was wir als Kinder oft nicht gelernt haben: Nähe eingehen, Gefühlstiefe, innere Sicherheit und Geborgenheit, Dinge, die das Leben erfüllen und schön machen. Schließlich bei aller Wiederanbindung an unsere Wurzeln lernen wir, nicht das Leben unserer Eltern leben, sondern unser eigenes. In der Traumaforschung nennt man diese Schritte posttraumatisches Wachstum. In Akzeptanz und Verarbeitung von überfordernden Erfahrungen können neue Fähigkeiten entstehen, die für uns und andere Überleben und neues Leben sichern.
Warum haben Sie sich für die Fachtagung „Kriegsenkel – Traumaweitergabe über Generationen“ ausgerechnet Lübeck ausgesucht?
MBM: Mehr als zwei Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den Ostgebieten sind in den Jahren nach 1945 nach Schleswig-Holstein eingeströmt. In Lübeck-Pöppendorf gab es ein Auffanglager. Etliche blieben in Lübeck. Die Einwohnerzahl Lübecks wuchs innerhalb von fünf Jahren von 150.000 auf 240.000 an. Die TelefonSeelsorge hat in all den Jahren diese Menschen und ihre Kinder und Kindeskinder seelsorgerlich begleitet. Aber Lübeck liegt auch zentral in der Nordkirche. Wir haben etliche Ehrenamtliche auch aus Mecklenburg-Vorpommern und wissen von daher, dass in der DDR die Nichtverarbeitung von Kriegstraumata noch ganz anders gelaufen ist als im Westen.
Wie kann eine Gesellschaft mit einer ganzen traumatisierten Generation umgehen?
MBM: Gehen wir tausende Jahre zurück und schauen in das Alte Testament der Bibel: Der Prophet Ezechiel hat ein klare Ansage zum Umgang mit Kriegsfolgen gemacht. Das Sprichwort „Die Väter haben die sauren Trauben gegessen und den Kindern werden die Zähne stumpf“ solle fortan nicht mehr gelten. Gott schenke ein neues Herz und einen neuen Geist. Damit werde neues Verhalten möglich.
Aber wie ist das denn mit der Schuld?
MBM: Man kann heraustreten aus der Zwangsläufigkeit von Tat und Tatfolge und mit neuem Verhalten neue Folgen möglich machen. Vielleicht ist es an der Zeit, die Verantwortung des deutschen Staates von einer persönlichen Schuld trennen. Auch in unseren gefühlsmäßigen Tiefenschichten. Ein neues Herz und ein neuer Geist machen, dass wir ohne diffuse Schuldgefühle oder im Gegenteil übertrieben offensiv, wie andere Völker auch unser Land, unsere Sprache, unsere Kultur lieben und auch schützen dürfen. Wir dürfen gern in unserem Land leben wollen. Hier gern zuhause sein. Beim Fußball unbekümmert die Deutschlandfahne schwingen. Alte Volkslieder singen, ja auch das Deutschlandlied. Weder die Kriegskinder noch wir Kriegsenkel haben Schuld am Zweiten Weltkrieg.
Und was kann dann aus dieser Generation werden?
MBM: Ein neues Herz und ein neuer Geist machen, dass ich Ja sagen kann dazu, eingebunden zu sein in die gewalt- und leidvolle Geschichte meiner Vorfahren und meines Volkes. Und mich dafür verantwortlich fühle, dass wir anders handeln als unsere Vorväter und -mütter. Dafür zu sorgen, dass andere Menschen - ich denke auch an die Flüchtlinge und Migranten der Neuzeit – Erfahrungen machen, die besser, liebevoller und friedvoller sind.
Was sagt die Bibel denn dazu?
MBM: „Er lockt dich aus dem Rachen der Angst/in einen weiten Raum ohne Enge/zur Ruhe am reich gedeckten Tisch“ Mit diesen Worten tröstet ein anderer Prophet: Hiob, den das Leben wirklich sehr schwer gebeutelt hat. Diese Worte gelten auch uns, ob wir nun kleine Wunden mit uns herumtragen oder auch größere. Deutschland ist – global gesehen - ein reiches weites Land. Angst abbauen, sich des eigenen Dramas von Krieg und Flucht erinnern und anderen Menschen die Hände reichen, ist angesagt. Gott, der ein Gott des Lebens ist, lockt uns aus dem Rachen der Angst. In einen weiten Raum ohne Enge. Was für eine Verheißung.