„Transport- und Haftkosten für 531 Tage = 796,55 Reichsmark
sowie Vollstreckungskosten = 122,00 Reichsmark.
Zahlungspflichtig Frau Hildegard Stellbrink, Lübeck, Moislinger Allee 96“.
Fast 75 Jahre ist es her, dass die Witwe des evangelischen Pastors der Lutherkirche Karl Friedrich Stellbrink diese Rechnung erhielt. Aus Angst vor weiteren staatlichen Repressalien hat sie bezahlt.
Am 10. November 1943 war ihr Mann in Hamburg hingerichtet worden, gemeinsam mit den drei jungen katholischen Priestern der Lübecker Herz-Jesu-Kirche Johannes Prassek, Hermann Lange und Eduard Müller. Offizieller Grund war „Wehrkraftzersetzung“. Sie hatten englische Rundfunksender gehört, in Gemeindeveranstaltungen und auch von der Kanzel das Unrecht des Nationalsozialismus beim Namen genannt.
Gott hat mit lauter Stimme gesprochen
Stellbrink sagte im Konfirmationsgottesdienst am Palmsonntag 1942 in der vollbesetzten Lutherkirche, am Morgen nach dem verheerenden Bombenangriff auf die Lübecker Altstadt, dass Gott mit lauter Stimme zu den Lübeckern gesprochen habe. Bald darauf wurde er verhaftet. In den kommenden Wochen stand die Gestapo dann auch bei den Herz-Jesu-Kaplänen vor der Tür.
Denn längst war der Geheimpolizei bekannt, dass die vier Geistlichen sich austauschten. In einer Zeit, als „Ökumene“ für beide Kirchen noch ein Fremdwort war, hatten sie diese binnenkirchliche Mauer längst überwunden – aus Liebe zur Wahrheit und aus Liebe zu Jesus Christus. Der Volksgerichtshof tagte extra in Lübeck.
Die Vier blieben standhaft
Gnadengesuche der Kirchenleitungen wurden von Hitler persönlich abgelehnt, denn es sollte jedem Pastor und jedem Pfarrer in Deutschland klar gemacht werden, dass Opposition einen unweigerlich das Leben kosten würde. Die Vier blieben standhaft; sie ließen ihr Leben unter dem Fallbeil. Innerhalb einer halben Stunde floss ihr Blut ineinander.
Dieser konfessionsübergreifende Widerstand gegen das NS-Regime war einzigartig. „Wir waren wie Brüder“ schrieb Kaplan Lange über die langen Haftmonate, die er mit Pastor Stellbrink in einer Zelle verbrachte.
Gedenken der vier Glaubenszeugen
Gleich nach dem Krieg begannen Mitglieder der katholischen Kirche, dieser vier Glaubenszeugen (Märtyrer) zu gedenken, wobei sie den evangelischen Pastor von Anfang an mit einbezogen. Seit 1945 findet am 10. November in der Herz-Jesu-Kirche eine Gedenkmesse statt. Ein regelmäßiges Gedenken in der evangelischen Kirche setzte erst in den 80er Jahren ein. Denn der ermordete Karl Friedrich Stellbrink war in seiner Kirche ein Außenseiter. Weder die Hitler-treuen „Deutschen Christen“ noch die Pastoren der „Bekennenden Kirche“ vertrauten ihm. Das lag daran, dass er zunächst selbst überzeugter Nationalsozialist war. Nachdem er sich aber zum Gegner des Systems gewandelt hatte, erschien er seinen Amtskollegen zu radikal, zu kompromisslos, zu leidenschaftlich, zu unvorsichtig. Es brauchte eine andere, unvorbelastete, Generation, um den wahrheitsliebenden Pastor in seiner Ambivalenz auszuhalten und wertzuschätzen.
2011 wurden die drei Kapläne vom Papst seliggesprochen; Pastor Stellbrinks wird in der katholischen Kirche ehrend gedacht.
Gedenken am Ort, auf dem Weg und im Gottesdienst
Wer mehr über diese vier mutigen Männer erfahren möchte, besucht die „Gedenkstätte Lutherkirche“ in der Moislinger Allee 96 oder die „Gedenkstätte Lübecker Märtyrer“ in der Parade 4. Ein „Gedenkweg“ verbindet die Orte ihres Lebens und Wirkens in Lübeck.
Zum Gedenken an den 75. Todestag laden die Kirchen ein zum Gottesdienst: am Sonntag, 4. November 2018 um 11 Uhr in der Lutherkirche mit Bischöfin Fehrs und am Samstag, 10. November 2018 um 18 Uhr in der Herz-Jesu-Kirche mit Erzbischof Heße.
Fester Glaube an die Liebe Gottes
„Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen.“ Dieser Satz aus dem Neuen Testament (Apg. 5:29) war für die Lübecker Märtyrer ein entscheidendes Wort. Ihr Widerstand gegen das Unrecht wurzelte in ihrem festen Glauben an die Liebe Gottes, die ohne Einschränkungen jedem einzelnen Menschen gilt. Damals hat man ihnen vorgeworfen, ihre persönliche Überzeugung über geltendes Recht gestellt zu haben. Aber es waren Frauen und Männer wie sie, auf deren Mut und Klarheit der Wertekanon der Bundesrepublik nach 1945 gründet.
Vorbilder im Vertrauen auf Gott
Für mich sind sie Vorbilder in ihrer Haltung und in ihrem Gottvertrauen. „Leuchttürme“, an denen ich mich zu orientieren versuche. In ihrer ökumenischen Verbundenheit sind sie Propheten: das, was Christinnen und Christen verschiedener Konfessionen heute noch trennt, darf nicht so bleiben. Sie haben diese kirchlichen Grenzen in einer Extremsituation überwunden. Ich denke, das muss uns ein Ansporn sein, dies auch in unserem Alltag zu erreichen.
Möge das Leben und Sterben dieser vier Lübecker Geistlichen uns immer wieder Impulse für das eigene Denken und Handeln geben.
Denn „man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, das gilt für alle Bereiche des Lebens: damals wie heute.