Lübeck. 19 Künstler:innen des Vereins "defacto Art" stellen in St. Marien zu Lübeck aus. Zu sehen sind außergewöhnliche Interpretationen zum Thema „Schöpfung“.
Der Titel der Holzskulptur „Der Mensch als Restrisiko“ von Marion Frehse fasst zusammen, was Besucher:innen in St. Marien zu Lübeck als Eindruck mit nach Hause nehmen könnten. Ein beklemmendes Gefühl. Das durchaus gewollt ist. Passend dazu gesellt sich an dieser letzten Station der Ausstellung „Schöpfung – Mensch, wo bist du?“ das begleitende Gedicht der Deutsch-Jüdin Mascha Kaléko „Kurzer Dialog“ mit der Bitte an Gott, das Weltgewissen nachzuliefern. „Je mehr wir um das Universum wissen, desto kleiner wird der Mensch und umso größer die Frage, wo Gott ist“, sinniert Pröpstin Petra Kallies. Sie hält am Sonntag, 6. August 2023, den Gottesdienst um 12 Uhr im Altarraum von St. Marien.
19 Interpretationen von "defacto Art"
Im Innenraum der Lübecker Stadtkirche präsentieren 19 Künstlerinnen und Künstler ihre freien Interpretationen zum Thema „Schöpfung“. „Die Installationen, Skulpturen, Fotos, Collagen, Malereien und Keramiken entstanden innerhalb eines Jahres“, berichtet Andrea Liske. Sie hat mit ihren Kolleg:innen des Vereins defacto Art die Ausstellung konzipiert. Den Kunstwerken voraus gingen intensive inhaltliche Auseinandersetzungen mit dem Thema „Schöpfung“.
Die Idee dazu kam von Marienpastor Robert Pfeifer: „Es geht um das Ganze, um den Ort jedes Menschen im Zusammenspiel aller Kräfte, um das Überleben der Menschheit. Mensch, wo bist Du? Diese Frage aus der Schöpfungsgeschichte der Bibel, Genesis 3, ist die große Frage nach der Verantwortung“. Bewusst habe er das Künstlerkollektiv angesprochen: „St. Marien ist ein Ort für alle künstlerisch Tätigen. Im Monat Juli zählten wir bereits 30.000 Besucher:innen; auf dieselbe Zahl hoffen wir nun auch im August. Das Thema und die Ausstellung treffen den Nerv der Zeit“.
Mit Highspeed durchs Weltall
Peter Fischer ist erster Vorsitzender des Kunstvereins. Seine Installation ist die größte im Kirchraum – und die höchste: Das Foucaultsche Pendel schwingt über am Boden liegenden Spiegeln an einem Drahtseil, das in 38 Meter Höhe befestigt wurde. Der Fisch am unteren Ende des Seils besteht aus einem 1,7 Milliarden Jahre alten Porphyrstein, gefunden am Brodtener Ufer. „Der französische Physiker Léon Foucault fand im 19. Jahrhundert heraus, dass sich die Erde unter unseren Füßen dreht. Auch jetzt, während wir hier stehen, rast sie mit einer Geschwindigkeit von 1.670 Kilometer pro Stunde durchs Weltall.“. Er habe sich die Frage gestellt, was passieren würde, stünde die Erde plötzlich still? „Das gesamte Universum funktioniert nach Naturgesetzen. Die Wissenschaftler erforschen diese, können sie aber nie bis ins Detail erklären. Das ist der Punkt, an dem ich philosophisch-religiös werde ob der Vielzahl an Dingen, die wir nicht wissen“, so der pensionierte Schulleiter.
Hoffnungen und Werte
An weiteren Stationen warten 365 Engel der Hoffnung auf Antworten: „Welche Hoffnung trägt dich durchs Leben?“ Andrea Liske gestaltete die Figuren aus Ton; Gäste können ihre Antworten in ein Büchlein schreiben. „So kommen wir in eine Interaktion“, sagt die Künstlerin. Auch an der Station der zerbrochenen zehn Gebote von Janine Turan gibt es die Aufforderung, sich zu beteiligen und seine Werte –die „Gebote“ der heutigen Zeit? – aufzuschreiben. Bildgedichte vom Innenraum der St.-Marien-Kirche entwarf Volkmar Schmidt mit dem Fokus auf Licht. Auch Gabriele Schau widmete sich diesem Thema in ihren beeindruckend-multidimensionalen Werken auf Acryl-Platten: Erkenntnis führe durch die Dunkelheit ins Licht. Weiter findet sich die Entfaltung, Entwicklung und Wandel in der Ausstellung sowie die Zerbrechlichkeit des Universums, Natur-Fotografien und Foto-Collagen die Frage nach dem „Opium des Volkes“, übertriebenen, maskenhaften Selbstdarstellungen, Regenbogen-Schöpfung auf Acryl, Sonnenaufgangs-Aquarelle und die Aufforderung an den Menschen, sich zu öffnen.
Lichtgestalt Jesus
Monica Callies beschreibt mit ihrer Mixed-Media-Technik die Geschichte der Menschheit, von der „Ursuppe“ bis zu ihrem möglichen Untergang. Der Titel: „Experiment gescheitert?“ Die 3D-Glasskulptur „Inri“ schuf der Kunstglaser und Glasmaler-Meister Sinisa Becanovic. Per Hand schnitt er 400 Einzelteile aus Float-Glas und klebte sie per Spezialkleber zusammen. „Dieser Kleber reagiert ausschließlich mit Sonnenlicht“, weiß Peter Fischer. So entstand ein gekreuzigter Jesus, der aus purem Licht zu bestehen scheint. „Ist Jesus ein Mensch oder doch eine Lichtgestalt?“ fragt der Künstler den Betrachter.
Der Verein defacto Art wurde 2007 ins Leben gerufen und ist in seiner heutigen Form als Kunsttankstelle seit 2014 in der Wallstraße 5 beheimatet. Die Ausstellung ist noch bis zum 9. September 2023 in St. Marien zu sehen.