Das Thema interessierte: Rund 150 Gäste aus Politik, Kirche und Gesellschaft folgten der Einladung von Pröpstin Frauke Eiben zum Michaelisempfang (30. September 2019). 30 Jahre nach dem Mauerfall wird über das unerwartete Wunder nachgedacht und gesprochen. Ganz eigene Erfahrungen mit der Wende brachte Frau Dr. Marie Anne Subklew-Jeutner von der Universität Hamburg, Arbeitsstelle Theologie der Friedenskirchen, zum Ausdruck. Sie hatte zuvor als Stellvertreterin der Beauftragten zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur in Brandenburg gearbeitet. Auch Kreispräsident Meinhard Füllner, Propst Marcus Antonioli aus Wismar und Stephan Krtschil, Pastor in der Propstei Lauenburg waren willkommene Gäste.
Mit Gebeten und Kerzen Mauern überwunden
„Es gibt auch bei uns evangelischen Christen einen Tag, den wir den Engeln gewidmet haben: den Michaelistag“, begrüßte Frauke Eiben die Gäste. Das Erkennungszeichen der Engel seien die drei Worte: „Fürchte dich nicht“. „Vor 30 Jahren haben Christen in den Kirchen der damaligen DDR diese Botschaft gebraucht, gehört und geteilt und mit Gebeten und Kerzen Mauern überwunden“, so die Pröpstin weiter. „Heute nehmen wir uns Zeit, uns dankbar daran zu erinnern, dass seit 30 Jahren keine tödliche Mauer mehr unser Land teilt. Dazu wollen wir unsere Geschichten und Lebensgeschichten erzählen.“
Jede Geschichte braucht einen Zuhörer
Frauke Eiben erinnerte damit auch an den anglikanische Pastor Michael Lapsley, der in der Zeit der südafrikanischen Apartheid Opfer eines Briefbombenanschlags wurde. Seine Erfahrungen lehren ihn, dass das Erzählen der Lebensgeschichte ein guter Schritt auf dem Weg der Heilung und Versöhnung ist. „Jede Geschichte braucht einen Zuhörer (every story needs a listener)“ ist sein Motto für die Seelsorge. „Im Institut für Healing of Memories bietet er Menschen einen geschützten Raum, um die eigene Lebensgeschichte zu erzählen. Erlittenes Unrecht kann in uns weiterwirken und giftig sein. Es muss raus, damit Versöhnung und Heilwerden gelingen kann!“ Das gelte auch für die Lebensgeschichten in Ost und West, resümiert Eiben.
Kalte Kirchenbänke und Musik von Biermann
Marie Anne Subklew-Jeutner erzählt, wie sie die Zeit vor dem Mauerfall erlebte: „Kalte Kirchenbänke und Musik von Biermann im Hintergrund, der 9. Oktober 1989, als die Menschen in Leipzig der Staatsmacht trotzten mit aufrechtem Gang, persönlichem Mut und gewaltfreier Konfliktlösung. Für mich der eigentliche Tag der Einheit.“ Eine Chance zum Aufbau der Demokratie wäre das Erarbeiten einer gemeinsamen Verfassung gewesen, beklagt sie eine vertane Chance. Unser Grundgesetz sei sehr gut, betont sie später. Aber für Ostdeutschland hätte die gemeinsame Arbeit daran ein mentaler und kultureller Neubeginn sein können. Ihre deutlichste Botschaft: „Die Berliner Mauer ist nicht gefallen, sie wurde am Abend des 9. November umgeschmissen.“
Live bei der Grenzöffnung in Mustin
Kreispräsident Meinhard Füllner erlebte seinen persönlichen Moment zur Wende in Mustin: „Meine Familie ist bereits 1949 von Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern rübergegangen. Die Grenzöffnung habe ich in Mustin erlebt, als einer der wenigen hatte ich ein Autotelefon und konnte darüber live informieren.“ Auch Stephan Krtschil stammt „aus dem Osten“ und war dort bereits 1989 junger Pastor. „Die Grenzöffnung habe ich im Zug verschlafen und war sehr irritiert, als ich nachts, wieder Zuhause, einen Anruf von einem Freund bekam, ob ich meinen Ausreiseantrag schon gestellt hätte“, lacht Krtschil. Er habe vorher nie an die Wiedervereinigung geglaubt. Für ihn und seine Familie sei heute das größte Glück, nicht mehr in Lüge und Unwahrheit leben zu müssen.
Alles zu Ende - oder etwas Neues beginnt
Propst Marcus Antonioli, der sich selbst als politischen Menschen bezeichnet, sinniert: „Ich habe mich der DDR nie zugehörig gefühlt und war nie Pionier und nicht in der FDJ. Zur Wende studierte ich in Leipzig und erlebte die Demonstrationen hautnah mit. Am 9. Oktober war klar: Entweder jetzt ist alles zu Ende oder es beginnt etwas ganz Neues“.
Kirche war der Akku für die Revolution
Während des Gesprächs beleuchtete Pröpstin Eiben mit ihren Gäste auch die Rolle der Kirche vor und nach dem Mauerfall: Meinhard Füllner betont: „Die Kirche war der Akku für die Revolution. Sie lieferte die Energie. Leider hat sie es dann nicht geschafft, ihre Position nachhaltig in die Zukunft zu führen. Heute sind nur acht Prozent der Menschen in den neuen Bundesländern gläubig. Eine Katastrophe!“ Sein Vorschlag: Kirche solle wieder mehr missionieren. Als „Gottvergessenheit“ bezeichnete Marie Anne Subklew-Jeutner diese Situation. „Vor der Wende besetzte die Kirche die Freiräume in der Gesellschaft, die es offiziell gar nicht gab. Und nun hat die Gesellschaft Gott wieder vergessen.“ Pastor Stephan Krtschil mahnte, den Gerechtigkeitsgedanken nicht untergehen zu lassen. Die Aufgabe der Kirche sei auch die Bewahrung der Schöpfung. „Spätestens jetzt sehen wir, dass permanentes Wachstum, auf dem der Kapitalismus fußt, nicht zum Guten führt. Wir brauchen neue Lösungen.“
Die Menschen in der Mitte nicht vergessen
Zur Frage, an welchen Mauern heute gearbeitet werden müsse, sagte Füllner: „Wir reden so oft über die Täter und die Opfer. Wir dürfen aber nicht die Menschen dazwischen vergessen“. Propst Antonioli beschloss die Runde mit einem Blick auf die politische Verantwortung: „Nicht alle Ostdeutschen sind von dem Leben nach der Wende enttäuscht. Und letztlich ist jeder Ostdeutsche selbst dafür verantwortlich, wie er handelt, was er tut und wen er wählt.“