Hiob 19,19-27
19 Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt. 20 Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. 21 Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, ihr meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! 22 Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? 23 Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, 24 mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen! 25 Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. 26 Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. 27 Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.
Gemeinde Jesu Christ,
Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. Georg Friedrich Händel eröffnet den Schlussteil seines berühmtesten Musikstücks, „Der Messias“ mit einer Arie, die diesen Bibelvers aus dem Hiobbuch aufnimmt. Mit geradezu rauschhafter Schaffenskraft komponierte Händel die Musik in nur drei Wochen. Ich weiß, dass mein Erlöser lebt! Fast trotzig erhebt sich Händel aus einer tiefen Schaffenskrise. Mit großer Tiefe nimmt Händel die Hörenden mit in sein Erleben und lässt uns teilhaben an seinem Aufstehen aus dem Staub. Es ist Händels ganz persönliches Ostererlebnis, zu dem er uns einlädt. Es geht ihm um das Ganze, von Anfang an.
Der Messias umfasst fast die gesamte Glaubensgeschichte Israels und der Christen. Aber es ist doch die Auferstehungshoffnung, auf das das Oratorium zuläuft: ein Leben durch und in allem Leid und Sterben; ein Aufstehen aus dem Staub. Es ist nur folgerichtig, dass der Messias zum Osterfest 1742 uraufgeführt wurde.
Georg Friedrich Händel ging es schlecht. Hiob geht es schlecht. Beide stoßen mit ihrem Leben an eine Grenze. All das, was ihr Leben ausgemacht, was es erfüllt, was es getragen und Sinn vermittelt hat- es ist weg. Alles liegt im Staub. Alles ist in Frage gestellt.
Die Freunde geben wohlgemeinte Ratschläge: „Du musst…“, „Probier doch mal…“, „Guck auch auf deine eigenen Anteile…“. Sie verstehen nicht. Die Einsamkeit wächst. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Plötzlich ist alles anders. Alles, was das Leben ausgemacht hatte: Familie, Beruf, die eigene Schaffenskraft, ein gewisser Wohlstand- oder doch zumindest genug, um angenehm und unbeschwert leben zu können. Plötzlich: alles weg. Warum? Was hatte er falsch gemacht? Er hatte sich doch nichts zu Schulden kommen lassen! Warum er? Wenn es gerecht zugehen würde, dann gäbe es da doch ganz andere, die es eher verdient hätten…
Schließlich geht es ihm an die Gesundheit. Nur noch Haut und Knochen ist er. Alle Lebensenergie ist verschwunden. Warum? Das ist einfach nicht gerecht!
Die Welt ist voll ihnen, den unzähligen Hiobs, denen das Leben unter ihren Händen zerbricht. Menschen, die an Gottes Gerechtigkeit verzweifeln. Menschen, die ihr Leben rechtschaffen gestaltet haben. Menschen, die ihr Bestes geben. Oder doch zumindest auch nicht schlechter sind als andere. Warum ich! Warum!
Nicht alle stellen sich die Warum- Frage in Bezug auf Gott. Nicht alle rufen: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Nicht alle fordern: Gott, verschaffe mir Recht, rücke du zurecht, was aus dem Ruder gelaufen ist. Nicht jeder Hiob ist auch ein Gläubiger; und nicht jeder, der in eine tiefe Krise gerät, wird auch an Gott irre.
Dass das Leben zerbricht: ein Unfall; eine schwere Krankheit, der Tod eines Angehörigen; Trennung, Arbeitslosigkeit. Die Gründe können vielfältig sein. Große Katastrophen- die Liste ist lang und erschreckend. Menschen geraten in Krisen. Menschen sind am Ende. Menschen stoßen an Grenzen. Plötzlich ist alles anders. Mit einem Mal entgleitet ihnen ihr Leben. Oder vielleicht spüren sie es nur in dieser besonderen Situation mit aller Macht: unser Leben ist begrenzt. Wir haben es eben nicht in der Hand.
Die Corona- Pandemie hat uns in einer Gesamtheit Grenzen gesetzt: Etwas, was wir so noch nie erlebt haben: Freunde treffen, verreisen, Konzerte besuchen- all das geht nicht mehr. Unser Leben ist staubig geworden.
Wie geht es dir? fragen wir und antworten: danke, ich habe ja nichts auszustehen. Und: andere trifft es viel härter.
Es ist eine wunderbare Gabe, das eigene Erleben in Bezug zu anderen zu setzen; die Verhältnismäßigkeit zu wahren. Wir jammern auf hohem Niveau, so sagen wir. Mein Eindruck ist: wir jammern viel zu wenig. Wir sind genervt, wir sind müde. Aber wo bleiben wir mit all dem? Wer wagt es auszusprechen, diesen Frust, ohne gleichzeitig klar zu stellen, dass es anderen ja viel schlechter geht?
Ich fühle mich einsam
Ich fühle mich eingesperrt
Mein Leben ist so eintönig geworden, dass ich nicht einmal meinen engsten Freunden etwas erzählen kann, weil mein Leben ein stumpfer Brei geworden ist
Ich bin verstummt
Meine Stimme ist mir abhandengekommen
Meine Gefühle
Meine Lebendigkeit
Mir fehlen Berührungen ganz körperlich, aber auch das berührt werden in einem Konzert, beim gemeinsamen Singen, beim Anblick einer unbekannten Landschaft
Ich habe Angst, was wird sein, wenn ich mich anstecke, wenn ich krank werde
Werde ich jemals wieder feiern können
Unbeschwert und grenzenlos
Werde ich das wieder können, ein Miteinander, eine große Gemeinschaft hautnah zu spüren
Wann wird es vorbei sein
Neu
Anders
Hiob klagt hemmungslos. Er lässt seinem Schmerz freien Lauf. Vielleicht ist er auch ungerecht dabei in seinem Urteilen über seine Freunde. Aber er klagt, er jammert. Er klagt an: schonungslos; haltlos; grenzenlos.
Auch wir haben allen Grund zu klagen. Wir brauchen einen Ort, um auszusprechen, hinauszuschreien: ich kann nicht mehr!
Weil: weil dann die Sehnsucht, wenigstens die Sehnsucht wiederkommt. Weil wir wieder etwas- uns spüren: den Hunger nach Leben: Das Gefühl, dass das noch nicht alles war, dass da noch etwas kommt. Dass in und mit allen Grenzen immer auch etwas Grenzüberschreitendes da ist.
Ich weiß, dass mein Erlöser lebt.
Wo kommt das her, diese Zuversicht?
Plötzlich ist dieser Funke Hoffnung da, ein Aufrichten in aller Niedergeschlagenheit, ein Halt auf schwankendem Boden.
Wo kommt das her? Wie geht das, dass ein Mensch sich aus dem Staub erhebt? Wie kommt es, dass ein G.F. Händel nicht in Depression verfällt, wo doch seine musikalischen Schaffenspläne kein Gehör finden. Der aber nach einer Phase der Krise sich in ein neues Schaffen wirft, mitgerissen wird von einer Kraft, die uns heute über die Jahrhunderte hinweg mitnimmt in ein Aufrichten hinein?
Sie machen es nicht selbst. Es macht etwas in und mit ihnen. Es ist eine Kraft, die sich durch keine Krise, keine Depression und keinen Lockdown zum Schweigen bringen lässt. Ich weiß, dass mein Erlöser lebt! Nicht immer gibt es eine Lösung für mein Problem, aber es gibt eine lösende Kraft, die Grenzen überschreitet- auch die von Krankheit und Tod. Eine Kraft, die aus Verstrickungen herauslöst, die aufstehen lässt aus Staub und Asche. Diese Kraft ruht manches Mal in uns und wartet nur darauf, entzündet zu werden. Aber es ist nichts, was wir haben wie einen Besitz. Nichts, was wir machen, produzieren oder uns erarbeiten können. Diese Kraft des Lösens ist unverfügbar. Es ist eine göttliche Kraft, ein existentieller Kern. Es ist eine Kraft, wie man sie in Gott findet, der uns begleitet und gleichzeitig immer auch rätselhaft bleibt. Eine Gotteskraft, die durch die Musik eines Händels in unsere Herzen dringt. Eine Kraft, die festhalten lässt an diesem Gott, der mich durch das Land der Tränen zu einem neuen Morgen leitet.
Ich weiß, dass mein Erlöser lebt: meine Sehnsucht, meine Hoffnung, meine Auferstehung.
Amen