Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg Pröpstin Kallies zum 9. November: "Es braucht unseren Mut und unser Handeln"

Pröpstin Petra Kallies (von links), Rabbiner Nathan Grinberg, der Gemeindevorsitzende Alexander Olschanski und Lübecks Bürgermeister Jan Lindenau in der Carlebach-Synagoge. Copyright: Petra Kallies

Lübeck. In der Lübecker Carlebach-Synagoge haben Vertreter aus Gesellschaft, Kirche und Politik an die Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938 erinnert. Damals schändeten die Nationalsozialisten jüdische Einrichtungen - auch in der Hansestadt. Lübecks Pröpstin Petra Kallies erinnert in einem Grußwort an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte, bezieht aber auch deutlich Stellung zu neuen antisemitischen Strömungen in der Gesellschaft. Der Beitrag der Pröpstin im Wortlaut. 

Die Rede im Wortlaut

„Nie wieder!“ Das waren meine Worte, die ich vor einem Jahr hier an dieser Stelle zu Ihnen sprach, die ich sprechen durfte – und musste: „Nie wieder Antisemitismus, – das ist ein Bekenntnis, ein Versprechen. Es ist an der Zeit, es einzulösen.“

Heute, ein Jahr später, sind wir wieder hier versammelt – an diesem Gedenktag für die Millionen Opfer der Shoa. 

Wir kennen uns nun bereits seit einigen Jahren. Es ist mir eine tief empfundene Ehre, dass Sie mir als Vertreterin der Ev.-Luth. Kirche das Vertrauen entgegenbringen, hier am 9. November in unserer Lübecker Synagoge sprechen zu dürfen. An diesem Tag, an dem gewiss viele von Ihnen in Gedanken sind bei der Geschichte Ihrer Familie, bei den Menschen, die betroffen waren von Hass und Gewalt und Mord.

Reichspogromnacht am 9. November 1938. Dieses Datum bezeichnet eine Zäsur. Wurde jüdisches Leben in Deutschland bereits vorher rechtlich und ökonomisch extrem diskriminiert, mündete der staatliche und gesellschaftliche Antisemitismus nun in öffentliche Gewalt. 

Entlarvt, klar sichtbar für jedermann und jedefrau. An vielen Orten überall in Deutschland sah die Bevölkerung die Synagogen in Brand, jüdische Geschäfte zerschlagen, viele Opfer der Gewaltexzesse. Sie mussten es sehen, sie wussten es. Doch die Generation meiner Großeltern verdrängte ihre Mitschuld und Mitverantwortung.

Heute geht es mir um unsere Verantwortung, um das „Nie wieder ist jetzt!“, um die antisemitischen Haltungen und Taten in unserer Gesellschaft, denen Sie als jüdische Menschen ausgesetzt sind. Und die wir alle als Gesellschaft von heute sehen und bekämpfen müssen.

Das ekelhafte Schild eines Ladenbesitzers

Im September dieses Jahres hat ein Ladenbesitzer in Flensburg ein Plakat ins Fenster gehängt mit der Aufschrift „Juden sind hier unerwünscht“, mit vier Ausrufezeichen versehen. Dieser unverhohlen antisemitische Akt hat Ermittlungen der Staatsanwaltschaft wegen Verdachts der Volksverhetzung nach sich gezogen und wurde er medial und politisch kritisch kommentiert.

Diese Tat hat mich gleichermaßen traurig wie wütend gemacht. Denn sie sagt etwas aus über unsere gesellschaftliche Gegenwart. Ein solches Schild macht sichtbar, was Jüdinnen und Juden in Deutschland heute erfahren müssen. Auf der Straße, in Schulen, an Universitäten, im Kulturbetrieb, im alltäglichen Leben.

Dieses ekelhafte Schild, das jüdische Menschen ausschließt aus einem Teil des gesellschaftlichen Lebens, war eine bewusste Provokation. Das war mehr als nur ein „Anklang“ an die Schilder der NS-Zeit. So sehr wir uns gewünscht haben, dass dieses Denken, dieser Hass, der Vergangenheit angehört, so sehr müssen wir erkennen: Der braue Sumpf ist und war wohl nie wirklich ausgetrocknet. „Nie wieder ist jetzt“ ist ein Versprechen, dessen Einlösung aussteht. Heute mehr denn je.

Viele sind sich der Verantwortung bewusst

Ich weiß, dass es in vielen Teilen unseres Landes, auch hier in Lübeck, viele Menschen gibt, die sich dieser Verantwortung bewusst sind und sich jeden Tag für ein respektvolles, tolerantes Miteinander einsetzen.

Mut machen mir Initiativen wie aktuell der 5-Punkte-Plan gegen Antisemitismus, der getragen wird von einem Bündnis aus deutschen, österreichischen und schweizerischen Organisationen und öffentlichen Personen. Hier geht es nicht um bloße Bekenntnisse gegen Judenhass, so wichtig auch diese sein mögen. Es geht vielmehr um die handfeste Durchsetzung von Maßnahmen für Bildung und Begegnung, um die Sicherung von Recht und Schutz jüdischen Lebens, um die Sichtbarkeit von jüdischer Kultur.

Wir brauchen mehr Personal für Antisemitismusbeauftragungen in staatlichen Behörden, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen, Mittel zur Durchführung von partnerschaftlichen Projekten. 

Mehr Personal im Bereich Antisemitismus

Denn – und hier folge ich Dr. Charlotte Knobloch, die als Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und Schirmherrin des Bündnisses sagt: „Wir dürfen Antisemitismus nicht als Begleiterscheinung hinnehmen. Er ist ein Angriff auf unsere Demokratie und verlangt entschlossenes Handeln.“ 

Wir alle, seien wir Juden, Christen, Muslime, Menschen anderer Religion oder ohne Konfession, wir alle sind gehalten, uns einzusetzen. Gegen den immer wieder aufflammenden Judenhass. Für die Unversehrtheit jüdischen Lebens. Dieses „Nie wieder ist jetzt“ braucht unseren Mut und unser Handeln. 

Lassen Sie uns an dieser Stelle bitte noch einmal zurückschauen. Dass nicht der wichtige Blick auf unser heutiges Leben die Anteilnahme an dem, was war, überdeckt. Sondern dass beides offenbar bleibe. Gemeinsam sind wir heute versammelt und gemeinsam denken wir an die ermordeten Jüdinnen und Juden, an die Opfer der Shoa. Und wir halten einen Moment inne in Achtung vor ihnen.

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Ich danke Ihnen herzlich.