Kirchenkreis "Staat und Kirche fahren auf Abstand, behalten einander aber im Blick"

Über das Verhältnis von Staat und Kirche, die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und Respekt hat Pröpstin Petra Kallies in der Andacht anlässlich des Amtsantritts von Bürgermeister Jan Lindenau am 27. April 2018 in St. Marien gesprochen. Sie bat Gott um seinen Segen für Lindenaus neue Aufgabe als 229. Bürgermeister der Hansestadt Lübeck, für alle die, denen politische Verantwortung übertragen wurde und für die ganze Stadt.

Die gesamte Ansprache im Wortlaut

"Wir feiern heute in der Lübecker Bürger- und Ratskirche St. Marien eine Andacht anlässlich des Amtsantritts unseres neuen Bürgermeisters Jan Lindenau, der im vergangenen November gewählt wurde.

St. Marien und das Rathaus, das war jahrhundertelang eine enge Verbindung. Eine der Seitenkapellen trägt den Namen „Bürgermeisterkapelle“; bis 1942 gab es hier eine besondere Loge; 1574 geschnitzt, reich verziert; der sog. „Bürgermeisterstuhl“ - wie vieles andere in der Palmarumnacht zerstört.

Sie, lieber Herr Lindenau, hätten da vermutlich ohnehin nicht sitzen mögen, denn seit 1918 ist das Verhältnis von Staat und Kirche neu definiert – und, wie ich finde, in guter Weise: vor 100 Jahren wurde die Staatskirche abgeschafft. Doch die Bundesrepublik ist kein laizistischer Staat. Staat und Kirche fahren seither mehr auf Abstand, aber behalten einander im Blick.

Religionsausübung und Öffentlichkeit ein breit dikutiertes Thema

Aktuell ist das Verhältnis von Religionsausübung und Öffentlichkeit ein breit diskutiertes Thema, ebenso wie das Verhältnis von Staat und Kirche.

Religion, Glaubensüberzeugungen, auch ihre Symbole, sind nicht verbannt in die heimischen vier Wände, sondern dürfen auch öffentlich ihren Ausdruck finden – im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, versteht sich…!

Das ist gut so, denn Glauben – oder auch ganz bewusstes Nicht-Glauben – ist Teil unserer Persönlichkeit. Religionen und Weltanschauungen beeinflussen unser Wertesystem, nach dem wir handeln.

Es ist schlimm, wenn Menschen gezwungen sind, im öffentlichen Leben etwas, für sie Wesentliches, abzuspalten – ganz egal, ob Religiöse ihren Glauben verbergen müssen, oder Atheisten ihren Nicht-Glauben.

no-go-areas: Wer es wissen wollte, wusste es schon länger.

Wer es wissen wollte, wusste es schon länger: dass es „no-go-areas“ in Deutschland gibt, Orte, an denen Juden um ihrer eigenen Sicherheit willen keine Kippa oder gar Schläfenlocken tragen sollten. Der antisemistische  Übergriff in Berlin hat uns aufgeschreckt – hoffentlich bleibt es nicht bei einmaligen Solidaritätskundgebungen, sondern führt zu einem intensiven Nachdenken darüber, wie wir es denn halten mit dem Respekt gegenüber Andersglaubenden.

Antisemitismus ist nicht hinnehmbar

Antisemistismus ist nicht hinnehmbar!

Verbale oder handgreifliche Übergriffe sind nicht hinnehmbar. Der Staat schützt die ungestörte Religionsausübung; Art. 4 GG. Doch der Staat, das sind am Ende wir. Wir alle haben die ungestörte Religionsausübung zu schützen.

Insofern ist auch die Debatte, ob der Islam nun zu Deutschland gehört oder nicht, obsolet. Musliminnen und Muslime sind Mit- und inzwischen oft auch Staatsbürger. In Art. 4 steht nichts vom Christentum, sondern vom religiösen Bekenntnis, dessen Freiheit unverletzlich ist. Glaube, Religion ist mehr als ein regionales kulturelles Erbe. Sie in diese Reihe einzuordnen, nimmt sie nicht ernst, relativiert sie, wird ihr nicht gerecht.

Der Staat, das sind am Ende wir. Wir alle haben mit dafür zu sorgen, dass ungestörte Religionsausübung möglich ist:

Respekt ist das Stichwort

Wer eine Kippa als Ausdruck seines Glaubens tragen will, soll das unbehelligt tun können – und darauf vertrauen können, dass andere ihnen zur Seite stehen.

Wer ein Kopftuch als Ausdruck ihres Glaubens tragen will, soll das unbehelligt tun können. Und: soll darauf vertrauen können, dass ihr Mitbürger zur Seite stehen, wenn sie sich verbalen oder körperlichen Attacken ausgesetzt sieht.

Wer ein Kreuz als Ausdruck seines oder ihres Glaubens tragen will, kann das i.d.R. unbehelligt tun – und das soll auch so bleiben. Und wer einer anderen Religionsgemeinschaft angehört: für sie alle gilt dasselbe.

„Respekt“ ist das Stichwort. Respekt vor der Glaubensüberzeugung der anderen. Auch Respekt davor, dass Menschen aus Überzeugung nicht glauben!

Religion muss Kritik aushalten können

Respekt bedeutet nicht, dass wir gegenseitig nichts kritisieren, nichts hinterfragen dürften. Religion; Glaube an Gott muss das aushalten können. Muss Kritik aushalten können, muss auch Satire ertragen können – trotzdem frage ich mich manchmal, ob deshalb auch man alles machen muss, was erlaubt ist. Gebietet es nicht der Respekt, dass man manche Spitze unterlässt, um die religiösen Gefühle anderer unnötig nicht zu verletzen? Respekt vor dem, was anderen „heilig“ ist: Symbole, Gesten, und Orte: Synagogen, Moscheen, Kirchen.

Der eigene Glaube und die daraus abgeleiteten Werte, erworbenes Faktenwissen und Lebenserfahrungen bilden den Hintergrund auch für politische Entscheidungen. Man kann das nicht an der Rathaus- oder Bürgerschaftstür ablegen; Politik wäre schön dumm, wenn sie auf Werte, Lebenserfahrungen und eben auch auf religiöse Überzeugungen verzichten würde.

Denn gerade diese „weichen“ Faktoren sind es, die oftmals den letzten Ausschlag für eine politische Entscheidung geben. Manches, was gesetzlich vielleicht noch durchginge, empfindet man dennoch schlichtweg „unanständig“ und sucht nach anderen, nach besseren Lösungen.

Gott um Segen für den Dienst bitten

Lieber Herr Lindenau, die Lübeckerinnen und Lübecker haben Sie zum Bürgermeister gewählt. Sie haben sich gewünscht, dass wir heute diese Andacht in der Rats- und Bürgerkirche St. Marien feiern und alle Bürgerinnen und Bürger dazu eingeladen. Anders als im Mittelalter geht nicht darum, das Amt mit dem Segen der Kirche auszuüben. Staatsdiener haben allen Bürgerinnen und Bürgern zu dienen. Es geht darum, in der Kirche Gott um Segen zu bitten für Ihren Dienst.

"Suchet der Stadt Bestes und betet für sie"

Zur christlichen Glaubensüberzeugung gehört, dass man sich nach bestem Wissen und mit allen Kräften einbringt. Dass man denen gerecht wird, die einem Verantwortung übertragen und Macht anvertraut haben.

Zum Glauben gehört, dass man eine gewisse Portion Demut aufbringt, die sich selbst immer wieder bewusst macht: wir alle können uns viel abmühen --- und sollen das auch! – aber es ist gut, Gott dabei um Unterstützung zu bitten:

Nicht, dass man sich stets mit allen Ideen durchsetzt, sondern dass sich die richtigen Ideen durchsetzen.

Nicht, dass man immer Recht behält, sondern dass man darum ringt, dass es gerecht zugeht.

Nicht, dass man meint, alles aus eigener Kraft schaffen zu müssen, sondern dass man auch Rat und Hilfe annehmen kann, Rat und Hilfe von Menschen, Ruhe und einen klaren Blick von Gott.

So wollen wir Gott um Segen bitten für Sie in Ihrer neuen Aufgabe, um Segen für alle, denen politische Verantwortung übertragen wurde, die politische Verantwortung angenommen haben, und um Segen für die Stadt:

„Suchet der Stadt Bestes und betet für sie…“ Dazu helfe uns Gott!

Und der Friede Gottes, der unser menschliches Wissen und Verstehen übersteigt, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus.

Amen."