Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg Pröpstin Kallies zum 9. November: "Wir müssen wachsam bleiben!"

Blick in die Carlebach-Synagoge in Lübeck, die 1880 eingeweiht und im Dritten Reich von den Nationalsozialisten geschändet worden war. Copyright: Bastian Modrow

Lübeck. In der Lübecker Carlebach-Synagoge haben Vertreter aus Gesellschaft, Kirche und Politik an die Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938 erinnert. Damals schändeten die Nationalsozialisten jüdische Einrichtungen - auch in der Hansestadt. Lübecks Pröpstin Petra Kallies, zugleich Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) in Lübeck, erinnert in einem Grußwort an das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte, bezieht aber auch deutlich Stellung zu den Terrorangriffen der Hamas und neuen antisemitischen Strömungen in der Gesellschaft. Der Beitrag der Pröpstin im Wortlaut. 

Der Beitrag im Wortlaut

Wir erinnern uns heute an die schrecklichen Taten der Reichspogromnacht, in der die Nationalsozialisten Synagogen zerstörten. Geschäfte jüdischer Bürger wurden zerschlagen, Jüdinnen und Juden verhaftet und ermordet. Eine von der SA orchestrierte Nacht der Gewalt.

Auch hier in Lübeck wurde die Synagoge verwüstet, ebenso sämtliche jüdische Läden. Viele jüdische Lübecker wurden verhaftet und in Lager verschleppt. Eine Reaktion der Stadtbevölkerung blieb aus.

Dem 9. November 1938 sollten viele, noch schlimmere Gewalttaten folgen. 1941 die Deportation Lübecker Jüdinnen und Juden nach Riga, ihre Ermordung im Jahr darauf.

Wir stehen noch heute, im Abstand von über acht Jahrzehnten fassungslos davor.
Fassungslos über das Ausmaß der Gewalt.
Fassungslos über die Unmenschlichkeit der Täter.
Fassungslos über das Schweigen der Gesellschaft.
Wir bewegen den Gedanken an das Schicksal der verstorbenen Menschen in unseren Herzen.

Am heutigen Tag erinnern wir uns an die unermesslichen Verbrechen am jüdischen Volk. An die Verbrechen an der Menschlichkeit, die ihnen vorausgingen und die ihnen nachfolgen sollten.

Ist ein Nebeneinanderstellen statthaft? 

Wenn ich mir eine Vorstellung von den geschichtlichen Ereignissen mache, dann fallen unweigerlich Bilder der Jetztzeit darunter. Deutschland im November 1938, Israel im Oktober 2023. Ich bin mir unsicher. Kann und sollte ich an einem Gedenktag wie dem heutigen Geschehnisse nebeneinanderstellen, die doch so weit voneinander entfernt sind?

Voneinander entfernt in mehrfacher Hinsicht, geografisch, politisch, soziologisch, kulturell, natürlich auch die unterschiedlichen Dimensionen, die ein Gleichmachen verbieten.

Schmälert es das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus?

Ich denke: Nein! Ich denke, gerade die Verantwortung, die uns aus unserer deutschen Geschichte erwächst, muss uns immer ins Hier und Jetzt blicken lassen.

Der Angriff der Terrororganisation Hamas auf Israel versetzt uns in Schrecken. Für den Staat Israel und seine Bürger ist er ein traumatisches Erlebnis. Sicherlich auch für Mitglieder Ihrer Gemeinde.

Holocaust-Überlebende sind wieder konfrontiert mit den Bedrohungen, denen sie vor langer Zeit ausgesetzt waren. Menschen betrauern die Toten und bangen um entführte Angehörige und Freunde. Ich möchte nicht vorgeben, mich in ihre Lage versetzen zu können. Was ich daran festhalte?

Verletzt ist Israel, als ein Ort, an dem jüdische Menschen in Sicherheit leben können. Ein Ort der Zuflucht gerade nach den verheerenden Erfahrungen der Shoah.

Und wieder Deutschland, hier und jetzt. Wir sehen Demonstrationen, die ein vermeintliches Einstehen für Frieden verkehren. Am Ende geht es vielfach um unverhohlenen Antisemitismus.

Nach meiner Wahrnehmung müssen wir - muss unsere Gesellschaft an dieser Stelle aufmerksam sein:
Würde und Sicherheit von jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger werden bedroht, zunehmend aus ganz verschiedenen Teilen der Gesellschaft. Auch bereits vor dem Oktober 2023.

Erneutes Schweigen darf es nicht geben!

Die historischen Erfahrungen der Shoah gemahnen uns zur Wachsamkeit. Verdrängen, Ausblenden, ein erneutes Schweigen der Gesellschaft darf es nicht geben. Vielmehr trägt jeder und jede Einzelne von uns eine moralische Verpflichtung, Judenfeindlichkeit zu begegnen mit einem entschiedenen „Nie wieder!“

Und ja: Der Blick auf die politische Lage lässt manchmal verzweifeln. Ich leihe mir ein wenig Hoffnung vom Holocaust-Überlebenden Leon Weintraub. Leon Weintraub, ein ehemaliger Arzt, heute 97-jährig, wurde vom Deutschen Fernsehen anlässlich des Hamas-Angriffs auf Israel interviewt. Zu seiner Hoffnung befragt, sagt er:

„Ich bin unheilbar optimistisch, weil ich an dieses Gewebe [(zeigt auf Kopf)] - an den gesunden Menschenverstand - glaube und tief überzeugt bin, dass das schließlich endlich, irgendwann mal, siegen wird, Überhand nehmen wird. Und das Radikale, Fanatische, Einseitige, Verblendete doch langsam, nicht mehr Teil dessen sein werden.“

Heute gedenken wir der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus.

Dem hoffnungsvollen Geist eines Überlebenden folgend, halte ich an dem Glauben fest, dass Gott uns hilft, die menschliche Würde zu beschützen. Dass er uns hilft, einander beizustehen. Uns couragiert voreinander zu stellen. Dass wir mutig sind, wenn Menschen aufgrund ihrer Religion bedroht werden.

In diesem Geist wünsche ich Ihrer Gemeinde, auch Ihren weiteren Angehörigen und Freunden, uns allen, von ganzem Herzen Frieden und Sicherheit.

Lübecker Pastor:innen wurde im August 2021 eine besondere Ehre zuteil: Sie durften am Tag vor dem offiziellen Festakt zur Wiedereröffnung der sanierten Carlebach-Synagoge die Jüdische Gemeinde besuchen. Einen Bericht gibt es hier. Bei der Gedenkveranstaltung am 9. November 2023 nahm Pastorin Bettina Kiesbye, Beauftragte für den christlich-jüdischen Dialog im Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg, teil und trug den Beitrag der Pröpstin vor.