TelefonSeelsorge: Den Lebensmüden unter die Haut kriechen, 23.11.2014

Die TelefonSeelsorge Lübeck hat im November noch mehr zu tun also sonst: Das graue Wetter macht viele Menschen traurig. Pastorin Marion Böhrk-Martin gibt Antworten zum Thema Suizid als Thema am Telefon.

 Die TelefonSeelsorge Lübeck hat im November noch mehr zu tun also sonst: Das graue Wetter macht viele Menschen traurig. 25.000 Menschen rufen jährlich bei den Ehrenamtlichen der TelefonSeelsorge Lübeck an. Gedanken an einen Suizid sind ein häufiges Thema. Knapp 90 Ehrenamtliche leisten allein in Lübeck diesen wertvollen Dienst. Neue Kolleginnen und Kollegen werden immer gesucht. Im Herbst beginnt ein neuer Kurs. Ein wichtiger Baustein ihrer Ausbildung: Wie gehe ich mit Menschen um, die am Telefon Selbstmord-Gedanken äußern? Hat da die Kirche nicht Probleme mit?

Interview mit Pastorin Marion Böhrk-Martin,
Leiterin der TelefonSeelsorge Lübeck: 

Liebe Marion  Böhrk-Martin, Schleswig-Holstein gilt als Hochburg des Glücks. Wozu brauchen wir dann hier eine TelefonSeelsorge?
Marion Böhrk-Martin : Weil es nicht nur glückliche Menschen in Norddeutschland gibt: erschreckenderweise hat Schleswig-Holstein trotz wunderbarer Lebensqualität die vierthöchste Suizidrate aller Bundesländer. Jedes Jahr sterben in Deutschland ungefähr 10.000 Menschen durch Selbsttötung. Damit sterben mehr Menschen durch Suizid als durch Verkehrsunfälle, Gewalttaten und illegale Drogen. Sechs bis zehn Angehörige hinterlässt ein durch Suizid Gestorbener, die oft nur sehr schwer damit umgehen können, an Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen leiden.

Was sind die Hauptursachen für einen Suizid?
Marion Böhrk-Martin : Ursache eines Suizids sind nicht so sehr akute Ereignisse, sondern zumeist psychische Erkrankungen wie Depressionen (70% der Suizidtoten) oder auch Suchterkrankungen oder Angststörungen. Gemeinhin steigen die Suizidzahlen, wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist und die Zukunftschancen gering sind. Doch zieht sich Suizidalität durch alle Gesellschaftsschichten. Zunehmend jüngere und alte Menschen sind suizidgefährdet. Suizidalität ist in unserer Gesellschaft nach wie vor tabuisiert. Betroffenen fällt es schwer, über ihre Not und ihre Suizidgedanken zu sprechen.

Rufen denn diese Menschen in der Telefonseelsorge an?
Marion Böhrk-Martin : Ja, die TelefonSeelsorge Lübeck wird häufig mit Gedanken an Selbsttötung konfrontiert. Durchschnittlich sucht an zwei von drei Tagen ein akut an Suizidalität Leidender das Gespräch mit uns. AnruferInnen äußern Gedanken der Lebensüberdrüssigkeit und Sinnlosigkeit, sie sind oft in Behandlung, leben aber vielfach mit ihrem Leiden allein und suchen einen Ansprechpartner.

Warum am Telefon? Warum suchen diese Menschen nicht persönlich Hilfe?
Marion Böhrk-Martin : Viele haben Angst, in ihrem persönlichen Umfeld nicht ernst genommen zu werden. Die Anonymität unseres Angebotes macht es offenbar leicht, existentielle Not zu benennen. Noch stärker kommt dieses in der Onlineberatung der Telefonseelsorge zum Tragen. Die Möglichkeit, sich unmittelbar aussprechen zu können, schafft dann Entlastung und erweitert den eingeengten Handlungsspielraum (Tunnelblick), der mit einer schweren Krise einhergeht. Zuhören hilft zudem im Vorfeld, damit es gar nicht erst zu einem Ausnahmezustand kommen muss. Das spezifische Gesprächsangebot der Telefonseelsorge besteht hierbei in der Vertraulichkeit und der kostenfreien Erreichbarkeit rund um die Uhr das ganze Jahr hindurch. Auch Menschen, die vor Ort keine oder wenig Hilfsangebote zur Verfügung haben oder nicht mobil sind, finden so in Krisenzeiten Gehör und Hilfe.


Viele Menschen haben ja noch das Wort vom „Selbstmord als Sünde“ im Ohr.
Marion Böhrk-Martin : In der Bibel selbst wird Suizid nicht verurteilt, es wird nur mit nüchternen Worten beschrieben, wie es jeweils dazu gekommen ist. Trotzdem haben sich die die beiden Großkirchen lange Zeit schwer getan mit der Selbsttötung eines Menschen, wie übrigens auch das Judentum und der Islam. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein weigerten sie sich, die als Selbstmörder diffamierten Menschen überhaupt kirchlich zu bestatten. Die Begründung lautete: Das Leben als Geschenk dürfe der Mensch nicht eigenmächtig verwerfen.

Ist das heute auch noch so?
Marion Böhrk-Martin: Nein, mittlerweile hat sich ein Sinneswandel durchgesetzt. In den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts kam mit der Seelsorge-Bewegung plötzlich der Mensch in den Mittelpunkt und die Erkenntnis, dass Suizid oft die Konsequenz einer langen seelischen Erkrankung ist wie Depression oder einer Angststörung, die immer mehr in Ausweglosigkeit und Enge führt. Von Eigenmächtigkeit oder einem Akt freier Selbstbestimmung kann da kaum die Rede sein. Die beiden Kirchen haben in einer jüngst veröffentlichten gemeinsamen Verlautbarung deshalb auch benannt, dass man nicht  weiter von Mord, sondern von Selbsttötung reden solle. Die Tat als solche bliebe zwar unverstehbar und sei nicht zu billigen – deshalb bräuchten Menschen mit Suizidgedanken unbedingt Seelsorge -  aber die Beurteilung des Täters als Sünder sei im Grunde ausgeschlossen. Selbst katholische Moraltheologie sagt heute, Gott habe Möglichkeiten zu verzeihen und man dürfe das Gebet und die Hoffnung auf das ewige Leben für Menschen, die sich das Leben genommen haben, nicht aufgeben.

Die TelefonSeelsorge ist eine kirchliche Organisation. Stört das die Anrufer nicht?
Marion Böhrk-Martin : Kein Anrufer muss bei uns Angst haben, „abgekanzelt“ zu werden. Als Seelsorger knüpfen wir an das biblische Verständnis an, nicht abstrakt über Suizid zu reden, sondern die Lebensgeschichte des Menschen  zu betrachten und auf seine Not und sein Elend zu sehen. Einer unserer wichtigsten Grundsätze für das Gespräch lautet, soweit unter die Haut des Lebensmüden zu kriechen, dass man an irgendeinen Punkt sagen kann: „Wenn ich mich in Sie hineinversetze, wie Sie Ihre Situation wahrnehmen, dann kann ich verstehen, dass Sie sich das Leben nehmen wollen.“  Erst dieser Schritt ins Leiden des Betroffenen hinein gibt ihm die Möglichkeit, Vertrauen zu fassen und eventuell gemeinsam mit uns Schritte zu bedenken, sich „das Leben zu nehmen“, das wieder lebenswert ist.

Verhalten sich kirchlich geschulte Ehrenamtliche gegenüber suizidgefährdeten Menschen anders als glaubensneutrale Hilfsorganisationen?
Marion Böhrk-Martin : Wenn Sie mit der Frage meinen, ob bei uns Bibel und Gebet vorgeschlagen wird gegen die Selbsttötungsphantasien, dann kann ich nur sagen: Um Himmels willen, nein! Unsere ehrenamtlichen Seelsorger werden sorgfältig ausgewählt und erhalten eine klassische Beratungsausbildung, die allerdings auf das jüdisch-christliche Menschenbild gegründet ist. Sie wissen, dass nichts so schlimm ist wie jemandem die Suizidgedanken ausreden zu wollen. Die Seelsorger gehen mit, und manchmal gelingt es, Krisenhilfe zu leisten und  gemeinsam mit dem Anrufenden vorher nicht wahrgenommene „Lebensmittel“ zu entdeckenden. Seelsorge gründet in der Liebe Gottes. Darin liegt für mich ein „mehr“ gegenüber glaubensneutralen Hilfsorganisationen: unsere Seelsorger hoffen manchmal stellvertretend für jemanden, der alle Hoffnung verloren hat. Manchmal werden sie von Anrufenden gebeten, für sie oder mit ihnen zu beten für ihr ruheloses Herz. Manchmal können sie nur auf dem letzten Stück des Lebensweges begleiten. Das ist besonders hart. Aber sie wissen darum, dass auch dieser letzte Akt der Verzweiflung nicht von der Liebe Gottes trennen kann, die in Jesus Christus ist.

Hintergrund:
Pastorin Marion Böhrk-Martin ist Leiterin der Telefonseelsorge Lübeck. Der telefonische Notruf 0800111-111, der kostenlos und rund um die Uhr erreichbar ist,  wurde bereits 1961 von der evangelischen Kirche aus der Taufe gehoben, arbeitet mit 80  ehrenamtlichen Seelsorgerinnen und Seelsorgern  und verzeichnet über 25.000 Gespräche im Jahr. Es werden laufend neue Ehrenamtliche gesucht, ein neuer Ausbildungskurs beginnt im November 2014.

Informationen dazu gibt es unter unter www.telefonsselsorge-luebeck.de, unter der Telefonnummer 0451-302481 oder per Email unter ts-luebeck@t-online.de.