Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg "Einmal im Jahr ließ sie das Unglück ihres Lebens zu..."

Das alte Radio einer ehemaligen Nachbarin spielt in dem Beitrag von Pröpstin Petra Kallies zum Volkstrauertag eine wichtige Rolle. Copyright: Maximilian Hofer

Lübeck. Der Volkstrauertag ist für Lübecks Pröpstin Petra Kallies eng mit der Geschichte einer ehemaligen Nachbarin verbunden. Einmal im Jahr drehte die "Kriegerwitwe" das Radio auf. 

"Unter uns wohnte eine alte Frau..."

Als junge Eltern, Mitte der 80er-Jahre, wohnten wir in Hamburg St. Georg in einem Mehrfamilienhaus. Altbau, mit Holzböden, 1. Etage. Wer solche Häuser kennt, weiß: wer dort in einer Wohnung unter jungen Familien lebt, braucht starke Nerven. Man hört das nächtliche Umhertragen von zahnenden Kindern, das Rollen des Bobby-Cars, wird Zeuge von Trotzanfällen und dem Toben, wenn andere Kinder zu Besuch sind.

Unter uns wohnte eine alte Frau, nennen wir sie Frau Weber. Oma Weber war die Mutter unseres Vermieters, die sich nie über den Lärm beklagte, sondern sich, sagte sie, über das Leben über ihr freute. Frau Weber hörte uns 365 Tage im Jahr.

Sie hörte Marschmusik - den ganzen Tag

Wir hörten sie nur einmal im Jahr, aber dann richtig. Am Volkstrauertag blieben die Gardinen bei ihr zu. Und sie drehte NDR 1 morgens um 9 auf volle Pulle und hörte Marschmusik. Den ganzen Tag, bis zum Schlafengehen. So war das noch in den 80ern. Oma Weber war „Kriegerwitwe“ – geboren um 1910, ihr Mann irgendwann, irgendwo im Krieg gefallen, allein mit dem Jungen in der schlechten Zeit, und dem Hamburger Feuersturm 1943 gerade noch so entronnen.

In den 80ern hatte sie längst gelernt, damit klarzukommen, dem Leben auch wieder schöne Seiten abzugewinnen. Aber einmal im Jahr ließ sie das Unglück ihres Lebens zu: die Trauer um die Liebe ihres Lebens, die Erinnerung an Angst und Verzweiflung, die Einsamkeit im Herzen, die immer im Hintergrund mitlief – trotz aller Freundschaften, trotz der Liebe ihres Sohnes, aus dem „was geworden war“. Darauf war sie stolz.

Mein Mann und ich, damals beide Anfang 20, haben das schon im ersten Jahr verstanden, als die Musik nach einer halben Stunde immer noch zu uns hochdröhnte - und wir keinen Moment lang daran dachten, mit Rockmusik gegenzuhalten oder gar zu fragen, ob sie das Radio vielleicht leiser stellen könne.

Am Volkstrauertag wusste sie: Ich bin nicht allein

„Heldengedenktag“ hieß der Volkstrauertag von 40 Jahren noch im Volksmund. Frau Weber ging es nicht um „Heldenverehrung“, sie war überzeugte Sozialdemokratin. Es war die Trauer um ein Leben, das so anders hätte verlaufen sollen. Am Volkstrauertag wusste sie: ich bin nicht allein. Millionen Frauen geht es wie mir. Und wenigstens einmal im Jahr durfte das Raum haben. Auch noch Jahrzehnte später.

Vorgestern las ich, dass seit dem 24. Februar ungefähr 100.000 russische Soldaten in Putins Angriffskrieg gestorben sind; wohl ebenso 100.000 ukrainische Soldaten und ca. 50.000 Zivilisten. Genau weiß das niemand, aber die Zahlen scheinen zu stimmen. Eine Viertelmillionen Leben sinnlos ausgelöscht! Ein Ende nicht in Sicht. Militärstrategen sagen: „Es ist leicht, einen Krieg zu beginnen, aber schwer, ihn zu beenden.“

Krieg ist Gotteslästerung

Krieg ist Gotteslästerung.
Wer andere angreift, versündigt sich an ihnen. An ihrem Recht auf Leben.
Wer andere angreift, versündigt sich an Gott. Am Schöpfer allen Lebens.

Im 1. Johannesbrief heißt es im 2. Kapitel:

„Wer behauptet: »Ich lebe im Licht!«, aber seinen Bruder oder seine Schwester hasst, lebt noch in der Finsternis. Wer seinen Bruder oder seine Schwester liebt, bleibt im Licht. In ihm gibt es nichts, was ihn vom Glauben abbringen kann. Aber wer seinen Bruder oder seine Schwester hasst, lebt in der Finsternis. Er irrt in der Finsternis umher und weiß nicht, wohin er geht. Denn die Finsternis hat seine Augen blind gemacht.“

Hass lässt Menschen Kriege führen

Es ist immer der Hass, der Menschen Kriege führen lässt. Auch bei Kriegen, in denen es scheinbar um wirtschaftliche Ressourcen geht, wie z.B. Zugang zu sauberem Wasser, ist die Triebfeder immer der Hass. Man könnte kooperieren. Man könnte Kräfte und Wissen bündeln. Man könnte teilen. Tut man aber oft nicht, weil wir Menschen in den anderen nicht die Schwester oder den Bruder sehen, sondern die Feindin oder den Gegner.

Uns Christinnen und Christen ist es aufgetragen, Friedensbringer zu sein. Unzählige Male weist uns das Neue Testament darauf hin. Wir können uns nicht ahnungslos stellen. Im Ukraine-Krieg erleben wir, dass Christen, die zumeist sogar ihr Tauf-Kreuz tragen, erbarmungslos und hasserfüllt andere Christen, Schwestern und Brüder, ermorden.

Stimmt es vielleicht gar nicht, was wir doch immer wieder predigen: dass unser Glaube an Jesus Christus uns verändert? Zum Guten hin? Dass der Glaube das Böse überwindet? Wir Christen sollen die Wahrheit mit unserem Leben bezeugen, indem wir Frieden bringen:

„Ihr Lieben, ich schreibe euch kein neues Gebot. Es ist das alte, das ihr von Anfang an gekannt habt: …  wer seinen Bruder oder seine Schwester liebt, bleibt im Licht. In ihm gibt es nichts, was ihn vom Glauben abbringen kann.“

Der Kampf zwischen Gut und Böse ist nicht vorbei

Der Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis, ist nicht vorbei. Immer wieder flammt er auf; weltweit. Krieg ist Gotteslästerung, denn er übertritt Gottes Gebote; tausend-, millionenfach. Lasst uns nicht aufhören, um den Frieden zu beten! Und lasst uns, jeden Tag neu, bei uns anfangen. Wo bringe ich Missgunst und Hass – anstatt Verständnis und Liebe?

Oma Weber ist schon seit vielen Jahren wieder mit ihrem Liebsten vereint; darauf vertraue ich. Die Zahl derer, die den Zweiten Weltkrieg bewusst erlebt haben, wird kleiner. Trotzdem leben mitten unter uns Hundertausende, die die gleichen Wunden in ihrer Seele tragen: die Frauen, Kinder und alten Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind und täglich, stündlich bangen um ihre Liebsten. Die Menschen aus Syrien, Eritrea, Afghanisten, dem Iran – die z.T. seit Jahren nicht wissen, ob ihre Angehörigen noch leben. Sie alle verdienen nicht nur Obdach, Essen und Kleidung. Sie verdienen auch unser Mitgefühl: Herzlichkeit, Freundlichkeit, Schutz vor Beleidigungen und Gewalt. Sie sind verwundet in ihren Seelen.

Das Bangen und Trauern ist nicht vorbei

Noch einmal die Bibel:

Ihr Lieben, ich schreibe euch kein neues Gebot. Es ist das alte, das ihr von Anfang an gekannt habt. Dieses alte Gebot ist die Botschaft, die ihr bereits gehört habt. Und trotzdem ist es zugleich ein neues Gebot, das ich euch schreibe. Es wurde verwirklicht im Leben von Jesus und in eurem Leben. Denn die Finsternis vergeht, und das Licht der Wahrheit leuchtet schon.

Beten wir für die Trauernden!

Das klingt schon fast adventlich: Die Finsternis vergeht, und das Licht der Wahrheit leuchtet schon.
Darauf will ich vertrauen und mit meinem Glauben nicht verzweifeln: Es soll Frieden werden!
Beten wir darum.
Beten wir für die Hoffnungslosen.
Beten wir für die Trauernden.
Beten wir, dass Gott uns Verständnis schenkt für die, die wir nicht verstehen.

Ohne die November-Marschmusik, die so gar nicht mein Ding ist, hätte ich Oma Weber vermutlich längst vergessen – so denke ich seit über 40 Jahren jedes Jahr am Volkstrauertag an sie; mit ein bisschen Traurigkeit und einem Lächeln.

Amen.

Pröpstin Petra Kallies