Margrit Wegner, Pastorin im Dom zu Lübeck, über Weihnachten in einer Zeit, in der viele Menschen Sorgen, Ängste und Nöte plagen. Copyright: Lena Modrow
Lübeck. Wenn sich am Heiligabend und an den Weihnachtstagen die schweren Türen des Doms zu Lübeck öffnen, tragen viele Menschen mehr mit hinein als Mäntel und Schals. Sorgen, Ängste, Fragen liegen in der Luft. Kriegsangst, politische Verwerfungen, eine instabil werdende Wirtschaft – die Verunsicherung dieser Zeit macht auch vor den Kirchenbänken an Weihnachten nicht halt. Margrit Wegner, Pastorin am Dom zu Lübeck, weiß von den Nöten vieler Menschen. Aus vielen Gesprächen, das ganze Jahr hindurch.
Ein Besuch bei Margrit Wegner, Pastorin im Dom zu Lübeck
Die 51-Jährige ist seit 2010 am Dom. Seit gut 20 Jahren Pastorin. Heiligabend bedeutet für sie jedes Jahr höchste Konzentration und große Sorgfalt. „In diesen Gottesdiensten steckt besonders viel Arbeit, aber auch ganz viel Predigtliebe“, sagt sie. Denn viele kommen nur einmal im Jahr. „Da sollen auch genau diese Menschen spüren: Hier geht es um mich und meine Sehnsucht. Hier bin ich richtig. Und vielleicht finde ich hier etwas, das mich auch im Alltag trägt.“
Besucher bringen ihre Sorgen mit
In diesem Jahr jedoch liegt etwas Zusätzliches über allem. „Die Verunsicherung, die Sorge, bei manchen auch wirklich tiefsitzende Angst – die ist beinahe mit Händen zu greifen“, sagt Wegner. Ihre Antwort darauf ist überraschend leise. „Vielleicht braucht es dieses Jahr nicht mehr Worte, sondern weniger. Mehr Raum für Stille. Mehr Lieder mit der alten, immer neuen Botschaft vom Frieden auf Erden. Mehr Licht in der Dunkelheit.“
Wie sehr die Weltlage selbst die Jüngsten prägt, erlebt sie gerade ganz konkret. Für ihre Konfirmand:innen hat sie ein Krippenspiel geschrieben. „Sie sind viel ernsthafter dabei als andere Jahrgänge“, erzählt sie. „Es geht ihnen zutiefst darum, den jüngeren Kindern Hoffnung mitzugeben.“ Erstmals wird darin auch König Herodes auftreten. „Da klingt natürlich mit, dass es bis heute Gewaltherrscher gibt, denen das Leben eines Kindes nichts wert ist, wenn sie ihre Macht bedroht sehen. Plötzlich bekommt die Weihnachtsgeschichte eine andere Aktualität.“
Worte, die unter die Haut gehen
In Gesprächen mit Gemeindemitgliedern spiegelt sich diese Ernsthaftigkeit wider. Eine Frau, der der Glaube sonst fern ist, sagte zu ihr: „Wenn es die Kirche in diesen Zeiten nicht gäbe, müsste man sie erfinden. Wer erzählt denn sonst noch von Hoffnung?“ Sie habe gerade einen Podcast gehört, in dem eine Lehrerin darum bat, Kindern Religion mitzugeben – Sinn, einen inneren Halt. „Nur Geschenke allein sind zu wenig“, zitiert Wegner. „Es braucht einen tieferen Anlass, einen Zuspruch: Dass Gott da ist. Dass das Licht stärker ist als die Finsternis.“
Ein anderer Brief hat sie besonders bewegt. Ein emeritierter Professor schrieb ihr: „Pastorin in diesen Zeiten zu sein ist eine wirkliche Herausforderung. Viele Menschen sind verunsichert, manche verängstigt. Und von unserer Kirche erhoffen sie sich Hoffnung gebende Antworten. Wir brauchen Sie.“ Wegner sagt leise: „Solche Worte gehen unter die Haut.“
In ihrer Heiligabend-Predigt will sie keine Schlagzeilen aufzählen. „Das würde wohl wenig ermutigen“, sagt sie. Stattdessen setzt sie auf Andeutungen – und auf die uralten Worte des Propheten Jesaja: „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht.“ Für Wegner ist das „Hoffnungstrotz pur“. Worte, die mitten hineinschneiden in die Gegenwart, ohne sie zu verleugnen.
“Mehr Licht in der Dunkelheit”
Ob es ihr schwerer fällt, Hoffnung zu verbreiten? „Manchmal vielleicht sogar leichter“, sagt sie nach kurzem Nachdenken. „Das Bedürfnis ist größer geworden.“ Besonders bei Jugendlichen und jungen Familien spürt sie das. „Das ist kein ‚nice to have‘ mehr, sondern eine echte Notwendigkeit.“ Die Sorgen sind konkret, global, persönlich – Iran, Sudan, Ukraine, Naher Osten. „Die Hoffnung, dass sich die Not wendet, wird existenziell.“
Billige Antworten lehnt sie ab. „Niemand möchte Vertröstungen hören“, sagt Wegner. „Alle lauschen anders auf die Zwischentöne. Sie sehnen sich nach echtem Trost, nach Trotzkraft, nach Mutworten.“ Für sie selbst heißt das: ehrlich bleiben. „Ich habe auch keine Antworten auf alles“, sagt sie. „Aber ich liebe die Bibel gerade wegen ihrer Fragen.“ Jesus selbst habe mehr gefragt als geantwortet. „Vielleicht geht es gar nicht um schnelle Lösungen, sondern um gemeinsames Fragen, Ringen und Suchen.“
“Diese Geschichte verbindet Generationen”
Zwischen all den Gottesdiensten findet auch sie kleine, kostbare Weihnachtsmomente. Besonders im Senior:innenheim. „Ich lese dort die Weihnachtsgeschichte im Wissen, dass manche sie zum letzten Mal hören“, sagt sie. „Und drei Stunden später lese ich sie im Familiengottesdienst – für Kinder, die sie zum allerersten Mal hören.“ Dann stocke ihr manchmal die Stimme. „Weil diese Geschichte Generationen verbindet.“
Vielleicht ist es genau das, was in diesem Jahr trägt: Dass mitten in einer verunsicherten Welt ein altes Versprechen neu aufleuchtet. Still, verletzlich – und doch stark genug, um Hoffnung zu wecken. Hier am mächtigen Weihnachtsbaum. In einem Meer aus Lichtern, an der Krippe. Im Dom, hinter schweren Türen.