Paula Ole Claußen ist Küsterin in St. Marien und in der Laurentiusgemeinde. Copyright: Bastian Modrow
Lübeck. Lübeck kennt Ole Claußen. Seit zehn Jahren ist er als Küster in St. Marien und in der Laurentiusgemeinde im Einsatz. Ein vertrautes Gesicht. Eine verlässliche Stütze im kirchlichen Alltag. Freundlich, klar, empathisch – so beschreiben ihn viele. Doch hinter diesem Leben, das von außen so geordnet wirkte, verbarg sich ein innerer Kampf. Ein jahrelanges Versteckspiel.
Heute heißt Ole Paula. Und Paula sagt: “Ich lebe jetzt als Person, die ich schon sehr, sehr lange bin, es aber immer verheimlichen musste.”
Das lange Versteckspiel
47 Jahre lang war sie gefangen – in einer Rolle, die nicht ihre war. Als Kind, erzählt Paula, spürte sie es zum ersten Mal: “Als ich acht Jahre alt war, habe ich es bewusst gefühlt. Ich lag im Bett und wünschte mir nichts sehnlicher als einen Kleiderschrank voller Mädchenklamotten.”
Doch die Zeit, die Familie, das Umfeld – all das ließ es nicht zu. “So stark dieser Wunsch war, ein Mädchen oder später eine Frau zu sein – ich konnte es nicht leben. Es hätte nicht funktioniert.” Zu groß war die Angst, zu tief die Sorge, alles zu verlieren. "Ich war in zwei Welten zu Hause. Habe mit Jungs Räuber und Gendarm gespielt und mit Freundinnen mit Barbies. Ich war dazwischen – und irgendwie nirgendwo richtig." Schon früh traf Ole eine Entscheidung: das Geheimnis mit ins Grab nehmen zu wollen. "Ja, ein Stück weit habe ich eine Rolle gespielt.“
Die heimlichen Ausflüge
Doch es gab diese heimlichen Ausflüge – kleine Fenster in ein Leben, das sich richtiger anfühlte. Secondhand-Kleidung, ein Café in einer fremden Stadt, ein Spaziergang im Rock. Mit Perücke. Mit Modeschmuck. “Es waren kurze Glücksmomente – aber danach ging es mir oft schlecht. Ich hatte das Gefühl, etwas Verbotenes getan zu haben. Auf dem Rückweg habe ich die Kleidung oft weggeschmissen. Es fühlte sich jedes Mal wie ein Rückschritt an.”
Irgendwann war der Schmerz nicht mehr zu ignorieren. Der innere Druck wurde zu groß. “Dieses Bedürfnis, meine weibliche Identität zu leben, wurde geradezu überbordend.”
Doch da war auch diese lähmende Angst: Was würden die anderen sagen? Die Kirche? Die Familie? Seine Frau? Seine Tochter? “Ich hatte Angst, dass ich alles verlieren könnte. Dass meine Welt zusammenbricht.”
Am 2. Januar 2025 setzte sich Ole in die Seelsorgekapelle von St. Marien. Er schrieb einen langen Brief – an Gott. Am nächsten Tag sprach er mit seiner Frau. “Sie hat nicht die Koffer gepackt. Sie hat ganz wundervoll reagiert. Keine Vorwürfe, keine Schuldzuweisungen.” Zwei Tage später fuhren sie gemeinsam nach Bad Segeberg – Kleidung kaufen, Schuhe in Größe 43 inklusive. Paula lacht bei der Erinnerung. “Zum Glück gab es welche.”
Ole liebte seine Frau – und Paula tut es heute. “Also ganz streng genommen bin ich lesbisch”, sagt sie und schmunzelt.
Paula? Ist wie Ole
Auf die Frage, was sich verändert habe, antwortet Paula mit ruhiger Stimme: "Paula? Ist wie Ole. Ein empathischer Mensch, der Klartext sprechen kann. Verlässlich, hilfsbereit, mit offenem Ohr. Dem Familie über alles geht. Das bleibt."
Der Weg des Outings war und ist kein leichter. Schritt für Schritt hat Paula Menschen eingeweiht – Freunde, Kolleg:innen, Gemeindemitglieder. Sie stellt sich den Fragen. Sie erfährt Zuspruch. Anerkennung. Respekt. Und sie geht den nächsten Schritt: Öffentlich sprechen. Sichtbar sein. “Zum einen möchte ich Menschen mitnehmen, die vielleicht genauso empfinden. Und zum anderen will ich sagen: Die Welt ist nicht zusammengebrochen. Sie dreht sich weiter.”
Dass der diesjährige CSD in Lübeck unter dem Motto “Nie wieder still” steht, ist Zufall. Und doch: “Es passt so gut. Denn ich bin nicht mehr still.” Paula lebt jetzt als die Frau, die sie immer war. Als Küsterin in St. Marien und in der Laurentiusgemeinde, wo sie große Unterstützung erfährt.
Gemeinden unterstützen Paulas Weg
Die Pastorinnen Inga Meißner und Anne Mareike Müller haben Paula Ole Claußen auf ihrem Weg begleitet. “Für uns in der Laurentiusgemeinde – ob unter den Mitarbeitenden oder Ehrenamtlichen – ist klar: Wir stehen hinter unserer Küsterin und danken Paula für ihr Vertrauen. Es macht für uns keinen Unterschied, denn Mensch bleibt Mensch", sagt Anne Mareike Müller.
"Ich bin überzeugt, dass Gott, wenn er uns ansieht, die Menschen in allen Facetten sieht. Gott hat immer schon Paula gesehen, für ihn passiert gerade nichts Überraschendes. Es sind wir Menschen, die jetzt glauben, einen anderen Menschen kennenzulernen", fasst es Inga Meißner von St. Marien zusammen. Die Pastorin weiter: "Nach so viel Jahren die Entscheidung für ein Outing zu treffen, muss ein riesiger Kraftakt sein. Dem zolle ich großen Respekt! Ich freue mich darüber. Und ich freue mich auch über all die schönen Reaktionen, die sie bei uns in St. Marien dafür bekommt.“
“Endlich zuhause” - ein neues Kapitel beginnt
“Ich kann sagen, dass ich mich endlich zuhause fühle. Nicht, dass sich Ole schlecht angefühlt hat. Aber am Ende hat sich Ole gar nicht mehr angefühlt.”
Ein neues Kapitel beginnt – nicht mit einem Paukenschlag, sondern mit stiller Klarheit. Und mit der tiefen Gewissheit: Dies ist der richtige Weg.