Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg Sexualisierte Gewalt: "Wir gehen mit dem Thema um. Offen und transparent"

Digitaler Alarmbutton: Janina Timmermann, Leiterin der Fachstelle zur Prävention sexualisierter Gewalt beim Kirchenkreis, und Pröpstin Petra Kallies setzen ein Zeichen für den Opferschutz. Copyright: Bastian Modrow

Lübeck/Ratzeburg. Der Kirchenkreis Lübeck-Lauenburg hat eine klare Position: "Wir handeln zum Schutz von (potenziellen) Opfern sexualisierter Gewalt", sagt Janina Timmermann, Leiterin der Präventionsabteilung sexualisierte Gewalt. Pröpstin Petra Kallies: "Wir reden nichts klein. Wir hören zu, wir bieten Hilfe und Unterstützung an, wir reagieren und ziehen notwendige Konsequenzen." Ein Interview.

Das Thema Missbrauch und sexualisierte Gewalt ist - so empfinden es zumindest viele - von der Kirche lange Zeit unter dem Deckmantel gehalten worden. Das hat sich spürbar geändert…

Petra Kallies: Als Kirche gehen wir das Thema offensiv an. Die Missbrauchsfälle in Ahrensburg waren zumindest für die Nordkirche ein sehr sehr lauter Weckruf. Wir haben ein Präventionsgesetz entwickelt und beschlossen, das uns allen klar vorgibt, dass wir uns mit dem Thema auseinanderzusetzen haben. Es liegt nicht mehr im Belieben oder in der Initiative Einzelner, wie bestimmte Ereignisse zu handhaben sind, wie intensiv diesen nachzugehen ist. Es ist korrekt, dass das Thema in den vergangenen zehn Jahren deutlich mehr Aufmerksamkeit bekommen hat. Und das ist auch gut so.

Ein lauter Weckruf für die Kirche

Auf der Webseite des Kirchenkreises gibt es jetzt einen deutlichen Aufruf, sich nicht nur zu melden, wenn man selbst Opfer von Grenzverletzungen, Übergriffigkeiten und sexualisierter Gewalt geworden ist. Man soll auch Beobachtungen schildern. Warum ist dieser offensive Schritt wichtig?

Janina Timmermann: Für mich ist es weniger ein offensiver, als ein konsequent logischer Schritt, der in die Präventionsarbeit gehört. Es gilt nämlich deutlich zu machen, wo Betroffene und Menschen, die sich Sorgen machen, sich hinwenden können. Das gab es bislang auch schon - jetzt aber sehr deutlich, noch prägnanter und sichtbarer und als Botschaft in die Bevölkerung: Wir gehen mit dem Thema um. Transparent und offen. Und wir wollen davon erfahren, um im Sinne des Opferschutzes handeln zu können.

Für wen ist die Meldestelle gedacht?

Janina Timmermann: In erster Linie ist die Kontaktadresse eine Meldestelle für Personen, die sich Sorgen machen. Das gilt für Personen, die kirchliche Angebote in Anspruch nehmen. Das gilt aber ausdrücklich auch für kirchlich Mitarbeitende. Mit dem Präventionsgesetz ist eine Meldepflicht beschlossen worden. Dort steht ganz deutlich: Wenn es den Verdacht gibt, dass gegen das Abstinenz- und Abstandsgebot verstoßen wurde oder dass es möglich ist, dass es um sexualisierte Gewalt geht, muss man es melden. Das bedeutet: Man darf bei Auffälligkeiten nicht mit sich selbst ausmachen, ob das Beobachtete oder Gehörte nun schlimm war und ob man die Info weitergeben muss oder nicht. In erster Linie ist die Meldestelle genau dafür da: Beobachtungen weiterzugeben, die man selbst gesehen hat oder die einem zugetragen worden sind. Um diese Fälle zu bearbeiten und nicht den Mantel des Schweigens darüber zu halten.

Zunächst ist es eine Haltungsfrage...

Es geht um einen transparenten Umgang mit möglichen Verfehlungen. Das Präventionsgesetz setzt aber sehr niedrigschwellig an. Mit welchem Ziel?

Petra Kallies: Wir reden hier zunächst einmal über eine Haltungsfrage - mit der ganz klaren Botschaft: Wir gehen respektvoll miteinander um. Das beginnt schon damit, dass die Personen, auf die ich bei der Kirche treffe, keine abfälligen blöden Sätze zu mir sagen. Es ist beispielsweise respektlos, Kita-Kinder herabzusetzen, weil sie sich vielleicht noch nicht die Schuhe allein zubinden können. Für Verdachtsfälle von Übergriffigkeit und sexualisierter Gewalt berufen wir einen Beratungsstab, der sorgsam prüft, welche Maßnahmen bei einem Verdacht auf sexualisierte Gewalt zu treffen sind, um den Opferschutz zu gewährleisten.

Aber steigt dadurch nicht die Gefahr, Personen zu Unrecht zu beschuldigen, unfreiwillig oder bewusst?

Petra Kallies: Diese Frage wurde im gesamten Prozess der Entstehung des Präventionsgesetzes immer wieder formuliert. Ja, diese Gefahr besteht. Aber: Dieses Risiko gehen wir ein, wenn es uns im Umkehrschluss gelingt, von schweren Fällen Kenntnis zu erhalten. Und noch einmal in aller Deutlichkeit: Die Personen, die diesen Prozess begleiten, prüfen jeden einzelnen Fall sehr genau.

 

Drei bis vier Fälle pro Jahr

Wie viele Fälle gibt es pro Jahr?

Petra Kallies: Das lässt sich nicht einfach in Zahlen ausdrücken, ohne dabei Äpfel mit Birnen aufzuwiegen. Es gibt unterschiedliche Grade - von schwerer sexualisierter Gewalt bis hin zu sexistischen Sprüchen. Streng genommen wären das alles Fälle. Nur: kann man diese in ihrer Schwere, in ihrer Tragweite nicht miteinander vergleichen. Tatsächlich gibt es im Kirchenkreis etwa drei bis vier Mal pro Jahr Fälle, bei denen wir einen Krisenstab einberufen haben.

Klar strukturierter Interventionsplan

Vorausgesetzt, Sie erhalten einen Hinweis. Was passiert dann?

Janina Timmermann: Wir haben einen klar strukturierten Interventions- und Handlungsplan. Im ersten Schritt schauen wir uns die vorliegenden Informationen an. Einbezogen in diese Ersteinschätzung werden die pröpstliche Person als Leitung des Verfahrens, die meldebeauftragte Person, die Präventionsbeauftragte und, wenn es sich beispielsweise um eine Einrichtung handelt, auch die Leitungsperson.

Und diese Runde tut dann was?

Janina Timmermann: Wir schauen uns zunächst den Fall gewissenhaft an, tragen alle verfügbaren Daten und Fakten für eine Bewertung zusammen. Dieser genaue und gründliche Schritt ist entscheidend, um letztlich eine elementar wichtige Gefährdungseinschätzung treffen zu können. In der Bewertung der vorliegenden Informationen unterscheiden wir unterschiedliche Einschätzungsmöglichkeiten: von zweifelsfrei unbegründetem Verdacht bis hin zu Gefahr in Verzug.

Und dann richten Sie einen Beratungsstab ein?

Petra Kallies: Wenn es einengen oder begründeten Verdacht gibt, wird von dem zuständigen Propst oder der Pröpstin ein Beratungsstab einberufen. Das geschieht unverzüglich, um keine Zeit zu verlieren. Sollte eine der pröpstlichen Personen gerade krank oder im Urlaub sein, vertritt sie die andere. Gleiches gilt, wenn der Propst oder die Pröpstin befangen, beispielsweise mit der beschuldigten Person befreundet ist.

Beratungsstab tritt unverzüglich zusammen

Beraten wird der Fall dann im internen Kreis?

Petra Kallies. Nein. Wir ziehen weitere Personen hinzu - eine externe Expertin oder einen externen Experten für Kinder- und Jugendschutzfragen zum Beispiel. Wir haben eine juristisch erfahrene Person dabei und jemanden aus dem Bereich Kommunikation. Reicht dies noch nicht aus, ziehen wir weitere Expertise hinzu, die notwendig ist. Der Beratungsstab tritt unverzüglich zusammen, meist innerhalb von 48 Stunden. Für alle Beteiligten ist klar: Wird ein Beratungsstab einberufen, lässt man alles andere stehen und liegen. Die zentrale Frage, die wir uns stellen ist: Welche Maßnahmen müssen ergriffen werden, um mögliche Gefahren für Betroffene und potenziell Betroffene abzuwenden.

Und was ist mit den Behörden?

Janina Timmermann: Um es ganz klar zu sagen: Unsere Arbeit ersetzt nicht die der Strafverfolgungsbehörden. Für uns steht der Opferschutz im Vordergrund. Die Frage, ob eine Strafanzeige im jeweiligen Verfahren zu stellen ist, begleitet zu jedem Zeitpunkt die gesamte Arbeit des Krisenstabes.

Noch einmal grundsätzlich gefragt: Ist die Sensibilität für sexualisierte Gewalt, Grenzverletzungen, Übergriffigkeit größer geworden?

Janina Timmermann: Ich glaube, sie steigt mit jeder Sensibilisierungsschulung, die wir durchführen. Es ist wichtig, mit möglichst vielen Menschen in den Austausch zu kommen, was mögliche Anhaltspunkte sein können für sexualisierte Gewalt. Und dass es wichtig und richtig ist, die eigene Wahrnehmung ernst zu nehmen. Das Wissen über Täter:innenstrategien zum Beispiel ermöglicht, manipulatives Verhalten eher zu erkennen und Hinweise von Betroffenen eher wahr- und ernst zu nehmen.

Es gibt keine eindeutigen Indikatoren

Was können denn Indikatoren sein, auf die Menschen, intern wie extern, achten sollten?

Janina Timmermann: Eindeutige Indikatoren gibt es kaum. Entscheidend und Auslöser ist häufig ein Gefühl, dass sich bei Menschen aus dem Umfeld der betroffenen Person einstellt: Sie machen sich wegen einer bestimmten Sache, eines Vorfalls, eines Erlebens, einer Beobachtung oder einer Schilderung Sorgen. Auffällige Veränderungen im Verhalten von Kindern und Jugendlichen können ein Indikator sein. Oder das plötzlich ablehnende Verhalten von Kindern bestimmten Personen gegenüber. Ein Indikator kann auch sein, wenn Kinder nicht mehr mit anderen spielen wollen, sich zurückziehen oder plötzlich sexualisierte Sprache verwenden. Es ist tatsächlich ganz ganz vielfältig. Was uns immer wieder einmal, vor allem bei öffentlichkeitswirksamen Fällen begegnet, ist die Aussage „Ach, das hab ich ja schon immer gewusst, da ist doch irgendwas gewesen“. Genau um dieses Gefühl geht es. Wir möchten erreichen, dass Menschen dieses Gefühl aktiv wahrnehmen, dazu stehen und sagen „Ich hab ein komisches Gefühl“. Unsere Aufgabe ist dann, diesen Eindruck zu objektivieren.

Noch einmal ganz deutlich: Ich kann mich aber auch melden, wenn ich betroffen bin von Grenzüberschreibungen oder sexualisierter Gewalt?

Janina Timmermann: Das ist selbstverständlich möglich. Wichtig dabei ist es aber, dass Anrufende wissen, dass die meldebeauftragte Person des Kirchenkreises Lübeck-Lauenburg den Auftrag hat, dass der Fall bearbeitet werden muss. Sprich: Wenn jemand nicht möchte, dass in einem zügigen Tempo weitere Schritte unternommen werden, jemand zunächst lieber eine Beratung möchte und das Erlebte schildern will, dann ist eine Beratungsstelle oder das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch eine gute Möglichkeit. Auch die Nordkirche hat eine unabhängige Ansprechstelle: die UNA. Hier kann man sich anonym hinwenden und bekommt Unterstützung.

Höhere Sensibilität in den Gemeinden

Der Kirchenkreis setzt sichtbar einen Schwerpunkt. Wie sehr steht das Thema in den Gemeinden im Fokus?

Petra Kallies: Die Aufmerksamkeit steigt mit dem Grat der Bewusstmachung - sprich: Es verändert sich bei Haupt- und Ehrenamtlichen die Wahrnehmung der Wichtigkeit des Themas, aber auch der Blick auf das Thema durch Schulungen. In den Pastor:innen-Konventen arbeiten wir in beiden Propsteien seit etwa zehn Jahren an dem Thema - und zwar in jedem Jahr. Man spürt, dass die Bereitschaft wächst, sich mit der unweigerlich belastenden Thematik auseinander zu setzen - selbstkritisch zu schauen, wie agiere ich, wie begegne ich Jugendlichen, auch anderen Erwachsenen. Genauso ist es auch bei den Kirchengemeinderäten. Alle kirchlichen Träger müssen überdies ein eigenes Schutzkonzept entwickeln. Das ist durchaus aufwendig, wenn man nicht nur ein Papier zum Abheften aufsetzen will, sondern sich gewissenhaft mit dem Thema auseinandersetzt. Aber: Die Bereitschaft ist ganz groß - und darüber bin ich froh.

 

Die FAQ-Broschüre der Nordkirche zur ForuM-Studie finden Sie hier.